Nervenausbruch

Nervenausbruch – oder ein Sonntag auf dem Rotenberg

Ich hatte letzten Sonntag auf dem Rotenberg einen Nervenzusammen- besser Nervenausbruch.

Saß da, ganz allein. Die Sonne ging langsam unter am wunderschön farbigen Horizont. Hörte Musik, Techno natürlich, was sonst.

Und weinte bitterlich gaaaaanz tief in meine Seele hinein. Mindestens eine Stunde lang. Und zittere einen Tag später immer noch. Aber ich merkte, wie sich Schicht um Schicht von meiner kaputten Seele löste und mit der glühend roten Sonne unterging. Und verschwand. Für immer. Es war meine Vergangenheit.

Da kam ein Pärchen mit dem Rad zu mir hoch auf den Gipfel und fing an, sich im Sonnenuntergang zu küssen. Sie umarmten sich und genossen den Augenblick.

Ich lächelte durch meine durchtränten Augen, fühlte just in dem Augenblick ein gewaltiges Gefühl aufsteigen – und sagte: „Es ist Liebe“. Ich dachte: Das ist Zukunft.

Packte meine Sachen in den Rucksack, drehte mich um. Und ging den Berg hinab. Nach Hause. Allein.

Der Steinbock und der Fisch, Teil 2

Der Steinbock und der Fisch, Teil 2 von 2 (31.4.2021)

…doch als der Steinbock oben am Gipfel ankam und die kargen Felsen betrachtete, bemerkte er, dass er doch sehr einsam war. Der Fisch hatte ja in gewisser Hinsicht ja schon recht gehabt. Er, als Steinbock sah seine Frau höchstens einmal im Jahr, zur Brunftzeit – und da war er so voller Hormone, dass er alles andere war als er selbst. Liebe war das gewiss nicht.

Er dachte lange nach. Plötzlich erwachte in ihm eine Erkenntnis: Er hatte sich in den Fisch verliebt. In seine großen, tiefen Augen. In seine glänzenden Schuppen. Trotz des Spotts und Hohns, den der Fisch ihm gegenüber geäußert hatte, konnte er den verdutzten traurigen und erschrockenen Blick im Gesicht des Fischs nicht vergessen.

Der Fisch räkelte sich im seichten Wasser am Ufer des Sees und ließ sich die Sonne auf die Flossen scheinen. Ihm ging es gut. Er war satt und zufrieden, von seinen Jungfischen umgeben. Das Leben war einfach wundervoll.

Da tauchte am Himmel ein Schatten auf. Ein Adler kreiste über dem See. In luftiger Höhe segelte er dahin und suchte mit seinem scharfen Blick nach Beute. Er war hungrig und hatte eine Familie zu versorgen, ein Junges wartete im Nest auf ihn. Es war nicht einfach, dieses Adlerleben, nachdem die Menschen immer und immer wieder die Nestruhe störten. So mussten beide, Adlerfrau und Adlermann auf Jagd gehen, um wenigstens ein Junges durchzubringen.

Der Adler erblickte den faul im seichten Wasser liegenden Fisch, setzte zum Sturzflug an, stürzte hinab, krallte sich den harten Schuppen des Fischs fest, erhob sich in die Luft und flog mit ihm davon.

Mittlerweile hatte der Steinbock starke Sehnsucht nach dem Fisch. Deshalb hatte er mit seinen harten Hufen einen kleinen Teich oben am Berg ausgescharrt. Die warme Sommersonne ließ den Schnee schmelzen und so lief der Teich schnell voll mit klarem Gebirgswasser.

Wehmütig stand der Steinbock am Ufer seines kleinen Teichs und stellte sich vor, dass der Fisch darin schwamm. Er redete mit ihm, bildete sich ein, endlich hier oben einen Freund zu haben. Doch da war niemand. Steinbocks Fisch war nur eine schöne Illusion.

Plötzlich, Geschrei! Gekreische!

Der Steinbock sah, wie der Adler den Fisch aus dem See holte. Nein!, schrie er. Nein, Adler! Du frisst nicht den Fisch, meinen Freund!

Nanu, dachte sich der Adler, schon auf dem Weg nach Hause. Was will der denn?

Ich gebe Dir eine Gämse, schrie der Steinbock in Panik, wenn Du den Fisch loslässt.

Der Steinbock rannte los, hüpfte gekonnt über die schroffen Felsen und rammte seine gewaltigen spitzen Hörner direkt in eine Gämsengruppe hinein. Er traf ein Jungtier mit voller Wucht. Es war sofort tot.

Na gut, dachte der Adler. So eine Gämse ist allemal mehr Futter für meine Familie also so ein knochiger Fisch. Dachte sich‘s, kreiste über dem kleinen Teich hoch oben am Berg und ließ den Fisch in den Teich fallen. Flog zurück, krallte sich die tote Gämse und flog ächzend davon. Nach Hause, endlich. Genz schön schwer zu tragen, so eine große Beute, dachte er. Aber seine Frau Adler würde glücklich sein und das Junge für eine ganze Weile gut versorgt.

Eilig rannte der Steinbock zurück zu seinem Teich. Geht es Dir gut, Fisch? Bist Du verletzt?, fragte er. Nein, alles in Ordnung, sagte der Fisch. Meine harten Schuppen haben mich vor den scharfen Krallen des Adlers bewahrt. Doch nun bin ich hier oben gefangen, alleine, ohne meine Jungfische. Ich werde einsam sterben.

Aber Du hast doch mich, antwortete der Steinbock. Ich bin dein Freund.

Danke, sagte der Fisch leise. Nach alledem, was ich zu dir gesagt habe, wie ich dich verletzt habe in meiner Überheblichkeit.

Schon gut, sagte der Steinbock. Ich war ja auch nicht gerade freundlich zu dir.

Und so verziehen sie sich gegenseitig.

Und seitdem sind der Steinbock und der Fisch ein Paar.

So ist es im Leben manchmal – so kommen Fische auf Berge und Steinböcke ans Wasser. Ohne den Adler aber wäre das alles nicht möglich.

Ende.

Bild von Anja🤗#helpinghands #solidarity#stays healthy🙏 auf Pixabay

Hornhautraspeln

Hornhautraspeln

Sitze auf meinem Balkon. Die Sonne scheint.
Ich rasple Hornhaut von meinen Füßen.
Vom vielen Wandern gewachsen.

So, wie ich die dicke, stinkende Hornhaut
von meinen Füßen rasple,
und das ist schmerzhaft und blutet zuweilen,

entferne ich auch die Verkrustungen
meiner schmerzenden Seele.
Trage ab, Schicht für Schicht.

Jetzt erst bemerke ich,
wie anstrengend, einengend und schmerzhaft,
verletzend uns sinnlos mein altes Leben war.

So, wie die Raspel meine Hornhaut schält,
wie die Sonne meine Ausschläge auf meiner Haut heilt,

so heilst Du mich.

Mit Deiner Liebe.

Ich danke Dir.

….

Interpretation

Um mal am Beispiel zu zeigen, wie der Autor so ein Gedicht schreibt) So ist es mit jedem Gedicht. Deshalb nennt sich das ja Dichtung, von ver-dichten. Ich nenne es Komprimierung der Realität.
Na hoffentlich wird das niemals Aufsatzthema, denn hier steht die Lösung :)

Szenerie: Ein Mann, Mitte 50 sitzt auf seinem Balkon in der Sonne. Daran Ende April nichts Ungewöhnliches. Aber er tut etwas Ungewöhnliches. Er pflegt seine Füße (Referenz zur Bibel, Jesus hat seinen Jüngern die Füße gewaschen. Heute macht der Papst das immer noch.)

Dann fängt er an, über seine Situation nachzudenken. Und ich als Autor klinke mich in seine Gedanken ein, und schreibe sie auf. Der Mann, der da sitzt, bin nicht ich. Das ist mein Lyrisches Ich (Definition, sehe https://wortwuchs.net/lyrisches-ich/ und https://de.wikipedia.org/wiki/Lyrisches_Ich)

Der Ausdruck lyrisches Ich (manchmal auch: generisches Ich) bezeichnet in einer Traditionslinie der Literaturwissenschaft den fiktiven Sprecher oder die Stimme eines Gedichts oder Liedes (Lyrik).

https://de.wikipedia.org/wiki/Lyrisches_Ich

Gehen wir also in den Aufbau des Gedichts. Erst wird die Szenerie beschrieben. Form ist die Gegenwart, das heißt ich schreiben einen Bewußtseinsstrom. (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Bewusstseinsstrom)

Bewusstseinsstrom (englisch stream of consciousness) bezeichnet die ungeregelte Folge von Bewusstseinsinhalten. In der Literaturwissenschaft ist damit eine Erzähltechnik gemeint, die die scheinbar ungeordnete Folge der Bewusstseinsinhalte einer oder mehrerer Figuren wiedergibt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Bewusstseinsstrom

Also, dann inhaltlich, Zeile für Zeile, Wort für Wort (Beschreibung in kursiv):

Sitze auf meinem Balkon. Die Sonne scheint. | Ist klar.

Ich rasple Hornhaut von meinen Füßen. | Ist auch klar.

Vom vielen Wandern gewachsen. | Warum er das macht. Er ist viel gewandert. Und seine Füße schmerzen. Warum ist er so viel gewandert? Gewandert ist hier in doppeltem Sinne zu verstehen; einmal Wandern als körperliche Aktivität, zum anderen als Wandern durch sein Leben. Und beides hat Spuren hinterlassen. Das Wandern im Wald an den Füßen und das Wandern durch sein Leben in seiner Seele.

So, wie ich die dicke, stinkende Hornhaut | Aha. Die Verletzungen sind tief und hässlich.

von meinen Füßen rasple, | und die will er jetzt beseitigen

und das ist schmerzhaft und blutet zuweilen, | ist klar. Aber auch hier sind zwei Ebenen im Spiel. So wie seine Füße bluten, blutet auch sein Herz.

entferne ich auch die Verkrustungen | Auflösung von oben, Rückkehr auf die Handlungsebene
meiner schmerzenden Seele. Jetzt erfährt der Leser den eigentlichen Hintergrund des Gedichts

Trage ab, Schicht für Schicht. | Es geht doch nicht so einfach, die Vergangenheit zu bewältigen. Also muss er es scheibchenweise machen, Es geht nur Stück für Stück. Aber er tut es, obwohl es weh tut.

Jetzt erst bemerke ich, | er wird sich seiner Situation bewußt

wie anstrengend, einengend und schmerzhaft,
verletzend uns sinnlos mein altes Leben war. | Er hat nun seine Situation erkannt. Er hat also ein neues Bewußtsein erlangt. Er hat etwas gelernt.

So, wie die Raspel meine Hornhaut schält, | ich führe ein neues Motiv ein, welches auch im Foto (übrigens mein eigenes), das Objekt, mit dem er seine Vergangenheit bewältigt. Die Raspel. Auf der Objektebene das konkrete Ding. Aber an dieser Stelle ahnt der Leser schon, dass da ja noch die Zweite, seelische Ebene existiert. Diese Spannung baue ich auf.

wie die Sonne meine Ausschläge auf meiner Haut heilt, | hier das Motiv der Sonne mit ihrer Wärme (wir erinnern uns, er sitzt ja auf dem Balkon in der Sonne), um dem Leser mitzuteilen, Achtung, die seelische Ebene kommt jetzt.

so heilst Du mich. | Ich führe noch eine dritte Ebene ein. Ein Du, eine unbekannte. Er hat erkannt, dass es eine höhere Kraft gibt, er kennt sie, die ihn dazu bringt, das jetzt zu tun, genau nämlich, in der Sonne zu sitzen, sich die Füße zu pflegen, und das Sonnenlicht Seine Seele heilen zu lassen.

Mit Deiner Liebe. | Und was ist das eigentliche Werkzeug dieser Heilung? Die Liebe. Man kann jetzt alles mögliche hier hineinlesen. Ist es ein anderer Mann, seine Mutter, eine Frau (wie bei mir). Oder ist es gar Gott oder ein Engel? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass er eine große Liebe spürt und sich heilen lässt. Von und mit dieser Liebe. Ja, wir wissen nichteinmal, ob diese Liebe überhaupt existiert. Aber er fühlt sie.

Ich danke Dir. | Am Ende hat er verstanden, dass ihm seine Taten vergeben werden. Dass die Liebe, die ihn heilt so annimmt, wie er ist, trotz seiner Vergangenheit. Er ist sich bewußt, dass nicht er selbst diese Transformation, diesen Bruch in seinem Leben, bestimmt hat und lässt sich in die Liebe fallen. Am Ende ist er dankbar, weil er seiner Ansicht nach diese Liebe gar nicht verdient hat.

Im Leser soll jetzt der Eindruck entstanden sein, geliebt zu werden. Ein Autor kann natürlich all dieses per Widmung konkretisieren, dann ist das Objekt klar. Das tue ich, wenn ich bestimmten Personen Gedichte schenke. Auch dieses wird irgendwann eine Widmung bekommen.

Das alles an Denk-Arbeit geht in so ein Gedicht. Für dieses Habe ich zehn Minuten gebraucht. Aber das Denken dahinter ist ein viel längerer Prozess. Die paar Zeilen sind schnell geschrieben, und schnell gelesen. Aber sie denken dauert lange. Und verstehen vielleicht noch länger :)

Grüßle, Markus