Über die Religion

Was als lose Ansammlung einiger Gedanken begonnen hat, bekommt, inspiriert von Dostojevskis „Geschichten aus dem Kellerloch“, langsam die Gestalt einer Novelle. Der Erzähler ist ein von der Gesellschaft an den Rand seiner Existenz gedrückter und verkannter Philosoph, der absichtlich als Eremit lebt und laut spottend über seine Gesellschaft sinniert. In einzelnen „Sessions“ wird er große Lebensbereicht aus seiner Sicht erzählen – immer sarkastisch kommentierend und von der eigenen Lebensenttäuschung dominiert.


Aus einem prosaischen Text II
Über die Religion
 
So, hallo, hier bin ich wieder. Keine Sorge, ich habe mich von meinem gestrigen* geistigen Höhenflug erholt. Ich fühle mich immer noch etwas benommen vom dringenden Erforschen des eigenen Ichs. Doch ich bereue nichts.

Ein Gedanke ist mir dennoch in sonderbarer Art und Weise hängen geblieben. Der Gedanke nämlich, Gott sei menschengemacht. Ein grandioser Gedanke, beseitigt er doch so manche philosophische wie theologische Diskussion exradicitus, gleichsam mit seiner tief in unserem kulturellen Gedächtnis sitzenden Wurzel. Nietzsche hatte schlicht Unrecht – Gott ist keineswegs tot! Alle vergeblichen Gottessuchen und –beweisversuche können beendet werden! Gott ist lebendig, real, greifbar – in der von Menschen erdachten Hülle, in der vom Menschen gedachten Gestalt. Er existiert schon deshalb, weil wir ihn denken können.

Nicht minder real und wirklich sind Gottes Gebote – egal in welcher Religion sie erlassen worden sind. Doch sie sind eben nicht das Produkt eines „Überhirns“, einer fernen, geisterhaften Gestalt.

Gott ist für mich, lieber Leser, ein soziologisches, ein geschichtliches Phänomen.

Und schon höre ich sie schreien, unter den Kuppeln und Kreuzen und Sicheln und Sternen. Wie kann er nur die Autorität des Herrn anzweifeln, dieser Ketzer! Nun meine Herrn, noch nie wurde Gott von einem Menschen beleidigt, immer waren es seine menschlichen „Stellvertreter“, die ihre Machtstellungen verteidigten, indem sie den einen oder anderen Philosophen der Häresie bezichtigten. Und bei Gelegenheit schon mal auf dem Blumenmarkt verbrannten.

Die Religion ist wohl die tödlichste Idee, die die Menschheit jemals hervorgebracht hat. Kein anderer Grund für Krieg, Mord, Folter und Totschlag ist so bedeutsam, wie der menschengemachte Streit um einen oder mehrere menschenerdachte Götter.

Bin ich nun ein Atheist? Beileibe, nein! Im Gegenteil. Ich schätze (gelegentlich) die Geborgenheit eines „väterlichen“ Geistes, einer vorgedachten Doppel-Moral und eines scheinheiligen Anstandes. Aber, und das unterscheidet mich signifikant von einem Propheten, denke ich das Subjekt der göttlichen Autorität als Abstraktion des Menschlichen.

Ich hoffe, sie verstehen, welche Kraft in diesem Satz liegt. Wir Menschen sind es, die den „unbewegten Erstbeweger“ (Aristoteles) erschaffen. Wir können Gott nicht nur denken (wie Thomas von Aquin es uns vormacht), sondern wir können Gott aktiv gestalten! Wir können, mit der Kraft unseres Glaubens, die Regeln setzen, nach denen Religion gelebt werden soll.

Und nein, ich merke schon, da lächeln sie wieder, die gottlosen Empiristen, ich begehe keinen naturalistischen Fehlschluss. Nirgends behaupte ich, dass aus der Existenz Gottes auch eine Wertnorm entsteht – im Gegenteil: Der Mensch allein hat es in seiner Hand, oder sollte ich sagen, in seinem Hirn, mit seiner Kreation seines Gottes auch die geltenden moralischen Sätze zu er-finden!

Und plötzlich, geradezu beiläufig, gewinnt die Menschheit zweierlei: Macht und Verantwortung. Mit meiner kleinen, einfachen These kann sich niemand mehr hinter dem Rücken eines Propheten verstecken, um mittelalterliche Gräueltaten zu begehen. Kein Papst und kein Bischof kann sich mehr aus der moralischen Verantwortung stehlen und der tödlichen Krankheit AIDS durch ein absurdes Kondomverbot Vorschub leisten.

Es gibt kein göttliches Gesetz, jedes Gesetz und jede Vorschrift ist alleiniges Produkt eines oder mehrerer Menschen. Daher kann es auch keinen Gottes-Staat geben. Weder in Rom noch sonst wo.

Was tut nun die Menschheit mit der neu erworbenen Erkenntnis? Zunächst einmal nichts. Wie üblich; Wahrheiten sind unbequem, sie tun an mancher Stelle weh. Schließlich rafft, wenn wirklich gelebt, ein kleiner Satz etliche komplette Fakultäten dahin – genauso wie die friedliche Revolution 1989 den „wissenschaftlichen“ Marxismus aus den Köpfen der Menschheit, hoffentlich für immer, radiert hat.

Wie für die Kommunisten wird auch für die Theologen ihre Stunde Null kommen – nach der sie sich in guter Nachbarschaft zu den Meinungsforschern wiederfinden werden. Mit gewissem Grinsen stelle ich mir schon die Mutter aller Sonntagsfragen vor: An welchen Gott glauben sie, wenn am nächsten Sonntag… ah, sie haben verstanden, gut.

Aber Spaß beiseite. Wenn die Menschheit begriffen hat, dass ihre fundamentale Konfliktursache nur ein Wettstreit der Ideen ist, dann kann sie auch beginnen, ihre Konflikte zu lösen. Wenn wir verstehen, dass wir alle unter göttlichen Scheinbildern wandeln, dann eröffnet sich erstmals in der Geschichte die Chance, dass die Menschen sich gegenseitig auf das Gemeinsame verständigen. Und das ohne Gesichtsverlust, denn: Jeder für sich kann stolz auf seinen Glauben sein. Über diesem liegt aber die Ebene der Menschlichkeit.

Oh, mein Gott! (welch schönes Wortspiel…) So wird aus dem Misanthropen noch ein Humanist. Ein gewisser Erasmus im fernen Rotterdam hätte seine helle Freude daran.

Wir Menschen haben nicht nur die Freiheit, Dinge zu denken, zu schaffen, zu formen, ja geradezu zu modellieren – wir haben auch die Verantwortung zu tragen, die sich aus der Ausübung dieser Freiheiten ergibt. Wir tragen ein schweres Erbe daran, dass über Jahrtausende Menschen im Namen Gottes gequält, gefoltert und getötet wurden. Nie war es Wille Gottes dieses zu tun – immer war das System Mensch der Täter, der seine Religion zu solch scheußlichem Zweck missbrauchte. Und immer ging es letztendlich um die Macht eines Menschen über einen oder viele andere.

In einem neuen Zeitalter müssen sich die Menschen auf gemeinsame, verbindliche Regeln für alle einigen – und dazu gibt es nur den Weg des abstrakten Rechts. Aber dazu mehr an anderer Stelle.

Natürlich stellt sich der geneigte Leser an dieser Stelle (zu Recht) die Frage, warum denn die Menschheit überhaupt ein Konstrukt „Gott“ erfunden haben soll.

Hören Sie, ich bin nur ein armer, von den Menschen missachteter Außenseiter. Woher also sollte ich das wissen? Kann man denn die Alten Griechen befragen, warum sie das Pantheon erschaffen haben? Natürlich nicht. Also muss ich mich an dieser Stelle dem altbekannten wissenschaftlichen Mittel der Spekulation bedienen. Köstlich, nicht wahr? Schließlich ist auch der heute angesagte Klimawandel nichts weiter, genauso die Vorhersage des nächsten Wahlergebnisses. Und ja, sogar in der Philosophie wurde dank des alten Hegels zeitweise wild spekuliert. Dies ist also eine durchaus legitime geistige Übung.

Ich glaube, die Menschheit hat bislang nicht die Fähigkeit besessen, die Ansammlung von vielen Willen und Vorstellungen zu betrachten. Uns fehlte schlicht die technische und kulturelle Methodik, um die Formung von moralischen Sätzen zu untersuchen. So wurde das Subjekt „Gott“ zum Ausdruck des aggregierten Willens der Menschen, genauer gesagt dem Teil der Menschen, die bereit waren, einen Teil ihres eigenen Willens an diesen „Gott“ abzugeben. Gott „befielt“ also, was die Masse will.

Zum anderen hat Religion einen narrativen, also erzählerischen, Bildungsauftrag. Nicht ohne Grund waren die ersten modernen Schulen in religiöser Trägerschaft. Gott diente und dient als abstraktes moralisches Vorbild und seine Gebote, ist letztendlich Ausdruck von Moralvorstellungen vorangegangener Generationen. Er dient also quasi als Lehrplan in weniger entwickelten und nicht aufgeklärten Gesellschaften.

Und drittens dient Gott der Möglichkeit zur Unterwerfung. Unterwerfung wiederum ist Aufgabe von Freiheit und Verantwortung zugunsten von gesellschaftlicher Vereinfachung. Denke nicht, gehorche! Schallte es lange Zeit auch in deutschen Landen. Und wer kennt es nicht, das Motto „ora et labora“. Bete und arbeite, und schalte dabei dein Hirn ab. Religion ist ein probates Mittel, um willfähriges Kanonenfutter oder eifrige Talersammler zu züchten.

Auch der Fatalismus, frei nach dem Motto: „Der Herr gibt’s, der Herr nimmt’s“ hat seine Wurzel in der gleichen gedanklichen Ecke: Der einzelne verzichtet auf seine Gestaltungsmöglichkeit zugunsten einer höheren Autorität mit der Aussicht auf kulturelle Erleichterung bei der Bewältigung seiner profanen Lebensumstände.

Also hatte für mich „Gott“ in früheren Kulturstadien mindestens drei wichtige Funktionen: Er diente als Sammelbecken für einen kollektiv anders nicht artikulierbaren Willen, durch ihn wurde der einzelne „recht“ sozialisiert, durch Unterwerfung konnte man seine Verantwortung abgeben und sein Leben vereinfachen.

Welch verlockendes Angebot! Zumal für die meisten Menschen bis heute das Denken eine anstrengende und lästige Pflichtübung ist. Wir in der westlichen Welt haben den Faktor Unterwerfung an den Sozialstaat abgegeben, die Sozialisation an das staatliche Bildungswesen und die Willensbildung an die Demoskopen. Dadurch ist auch das Konzept „Gott“ deutlich weniger gefragt.

Ja, ja sie haben ja Recht! Nun warten sie doch. Natürlich habe ich die spirituelle, seelische Ebene nicht absichtlich weggelassen. Denn sie ist das einzige, was uns vom ursprünglichen Konzept „Gott“ noch geblieben ist. Es gibt in der Existenz des Menschen dieses Quäntchen Unbekanntes, diese Sehnsucht nach Ewigkeit und spiritueller Gemeinschaft, welches keine der modernen Gesellschafts-Systeme abdecken kann.

Darum erfinden wir heutzutage einen „Wohlfühl-Gott“. Unter dem Prädikat der christlichen Nächstenliebe werden soziale Dienstleistungen erbracht, die auch ein kommerzieller Unternehmer anbieten könnte und in manchen Ländern auch tut. Gesellschaftliche Anerkennungsleistungen wie Schulabschlüsse und Hochzeiten werden mit pseudo-religiösem Rahmen geschmückt. So gebrauchen wir das Konzept „Gott“ dort, wo es andere Funktionsebenen der Gesellschaft nicht leisten können.

Ich wünschte mir, die Menschen würden mehr aus ihren Göttern machen. Wenn wir schon die Freiheit haben, uns den Gott so zu Gestalten, wie wir es wollen – wo bleibt da der Gott des Weltfriedens? Der Gott des Ausgleichs zwischen arm und reich? Der Gott der Gerechtigkeit? Der Gott der Teilhabe? Der Gott der Gnade? Der Gott des Mitleids und des Erbarmens? Wir zünden Kerzen an und singen Lieder. Anstatt dessen sollten wir einen globalen Gott der Humanität errichten. Der Mensch ist nun mal das Maß aller Dinge.

Wir können immer mehr Bereiche aus dem ursprünglichen, allumfassenden Gottesbild heraustrennen und an andere gesellschaftliche Subsysteme abgeben – wer weiß, vielleicht schälen wir dadurch ja das Innerste des wahrlich Religiösen hervor. Auch wenn es Reflexion unseres Denkens und Fühlens sein mag – es birgt das Potenzial einer echten Erneuerung. Indem wir das blinde Anbeten toter Texte ablegen und Gott als lebendige Idee verstehen, können wir uns auf das Wahre, Gute und Schöne im Glauben konzentrieren.

Wo Luther noch davon schwärmte, dass jeder über seinen Gott lernen konnte, gehe ich einen Schritt weiter und fordere jeden auf, sich seinen Gott selbst zu erschaffen! Natürlich werden die etablierten Größen der Glaubensindustrie mit Spott und Häme nach mir werfen – an den Tatsachen ändert es dennoch nichts.

Vielleicht steht die Menschheit ja an der Schwelle einer neuen Bewusstwerdung – des Entdeckens der seelischen Kraft als Trägerin von moralischen Normen. Wie es der amerikanische Präsident es formulierte – jeder Mensch möchte frei leben, gerecht leben und wählen können, für sich und seine Nächsten.

Mit dem Bewusstsein, einem Glauben anzugehören, dessen Fundament wir selbst erdacht haben, geht ein Leben in ganz anderer Verantwortung einher. Und jeder einzelne Mensch kann dem großen Ganzen dienen – der Humanität.

* siehe den Beitrag „Ein Samstagmorgen“

1 Anmerkung zu “Über die Religion

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