Niemand, niemand sieht in Dich hinein

Zum Tod von Robert Enke.

Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr Menschen durch die eigene Hand als durch Verkehrstote, Drogen und Mord zusammen. Depression ist die Volkskrankheit Nummer eins in diesem Land. Und nun hat sie ein weiteres prominentes Opfer gefordert. Einen Sportler, einen erfolgreichen solchen – ja sogar den Torhüter der Fußball-Nationalmannschaft. Einen Menschen, der, so denkt das gemeine Volk, doch all das hatte, wovon die meisten Leute nur träumen können: Geld, Ruhm, Erfolg. Und vermeintliches Glück.

Und nun das. Die Fälle häufen sich, nicht nur im Sport. Auch in der Wirtschaft gibt es seit der Krise vermehrt Selbstmorde – in Frankreich bei der France Telecom haben über 20! Menschen freiwillig diese Welt verlassen.

Hat die Gesellschaft nun endlich Zeit darüber nachzudenken, was sie ihren Mitgliedern zumutet? Könnten wir endlich mal darüber diskutieren, was die Menschen krank oder glücklich macht? Als selbst Betroffener fühle ich jedem nach, der den letzten Schritt geht und ziehe leise meinen Hut voller Achtung und Demut vor dem Gang in das Licht.

Gleichzeitig bin ich der festen Überzeugung, dass sie sinnlos gegangen sind.

Denn: Nichts ist es wert, sein Leben freiwillig zu opfern. Kein Geld, kein Beruf, kein Vaterland und kein Gott. Es sei denn, man wird zur Verteidigung der eigenen Werte gezwungen. Schon gar nicht wirft man sein Leben weg in einer Gesellschaft, die im Überfluss lebt und jedem ein einigermaßen menschenwürdiges Leben garantieren kann. Es ist schon ein Hohn; während anderswo Menschen um ihr Leben kämpfen, selbst wenn es nach unseren Maßstäben gar nicht lebenswert ist, werfen hier andere das ihre einfach so weg. Das ist falsch! Egal welche Sorgen man haben mag, egal in welcher Krise man steckt – es wird vorüber gehen. Das Leben siegt!

Wenn man es denn lässt. Unsere Gesellschaft ist krank. Wir stellen immense Anforderungen an Menschen, die diese immer weniger erfüllen können. Gleichzeitig sind die Einzelnen zu schwach, um diesen oft psychischen, latenten, sich summierenden Anforderungen klar die eigene eingeschränkte Leistungsfähigkeit entgegenzusetzen. Wir werden zu immer mehr Leistung gezwungen – mit dem Ergebnis, dass einige es schlicht nicht mehr schaffen und zur ultima ratio greifen. Oftmals ist dieser Zwang gar nicht äußerlich auferlegt. Er ist subtil, wird einem ins Ohr geflüstert, nachgetratscht, oder permanent durch überhöhten Ehrgeiz und übersteigerten Egoismus gar selbst eingeflößt.

In einer Gesellschaft, in der der Selbstmord akzeptierter ist als das Scheitern, stimmt vieles nicht. Wir müssen Schwäche akzeptieren lernen. Wir müssen unsere Gesellschaft menschlicher gestalten.

Dazu gehört auch das politische Eingeständnis der Unzulänglichkeit des Einzelnen. Weg mit dem veralteten preußischen Gehorsamkeitsdenken. Und den Calvinismus des vorletzten Jahrhunderts kann man gleich mit in die Tonne treten.

Zur Würde des Menschen gehört eben auch, scheitern zu dürfen.

Errare humanum est. Jeder kann krank werden. Jeder kann Pleite gehen. Jeder kann süchtig werden. Jeder kann ausbrennen. Das alles sollten wir endlich offen ansprechen und Strukturen zur Problembewältigung schaffen, und die Betroffenen nicht länger stigmatisieren. Den protestantischen Arbeitsethos-Mief der Fünfziger mitsamt der verlogenen katholischen Doppelmoral könnten wir so langsam auch ablegen. Wo sind sie denn, die Seel-Sorger, wenn sich die Seelen sorgen? Die wachsende Zahl psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft zeugt nicht gerade von deren Wirksamkeit.

Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass echte neue Wertschöpfung in einer digitalisierten Welt nur mit modernisierten, neuen Regeln des Zusammenlebens zustande kommen kann. Moderne, effiziente Gesellschaften sind nicht hart, starr, bürokratisch und kalt. Moderne Strukturen sind smart, flexibel, wissensbasiert und anpassungsfähig. Die moralischen Rezepte von gestern taugen recht wenig für morgen. Und schon heute sind sie am Limit.

Konkret bedeutet dies: Arbeitsverhältnisse müssen Schwächephasen der Mitarbeiter mit einkalkulieren. Es ist keine Schande, krank zu sein. Es ist eine Schande, nichts dagegen zu tun, dass die Leute krank werden! Schulen und Universitäten müssen mehr psychologische Dienste bekommen. Die Produktionsgesellschaft muss fehlertoleranter werden und die Fehlleistungen des Einzelnen systemisch auffangen können. Tut sie dies nicht, was ich stark befürchte, werden wir immer mehr Selbstmorde, Amokläufe und Terroranschläge erleben müssen.

Wir brauchen mehr Leistung aus Leidenschaft, aus Willen und der Sache wegen und weniger „Leistung“ aus Zwang, Not und Abhängigkeit. Es ist eine gesellschaftliche Schande, wie Lidl, Schlecker, die Telekom und andere mit ihren Arbeitnehmern, mit ihren MENSCHEN umgehen.

Lebens-Zeiten müssen verlängert werden. Es ist ABSURD, dass in einer Gesellschaft, in der die Menschen zwanzig Jahre länger leben und zehn Jahre länger arbeiten können, die Kinder in der Schule wegen einem Jahr gequält werden! Und das nur um einer kurzfristigen Sanierung der Landeshaushalte willen. Schämen sollten wir uns dafür, was wir unseren Kindern damit langfristig antun.

Wir müssen unseren Kindern lehren, was wirklich glücklich macht. Dass nicht jeder Häuptling werden kann, sondern dass es auch Indianer braucht. Dass jeder wertvoll ist, aus sich, als Mensch, als Ergebnis seiner eigenen Würde! Das ist die Idee vom Menschen der Aufklärung! Nicht der Rang macht Dich würdig – Du bist es alleine aus Deinem Menschsein heraus.

Jeder, der diesen Gedanken der Menschenwürde verstanden hat, muss den Freitod kategorisch ablehnen. Eben weil der Selbstmord gegen die eigene Würde verstößt. Die eigene Würde wird nicht durch andere oder die Gesellschaft definiert. Sie ist.

Die postmoderne Gesellschaft braucht weichere Werte: Lockerheit statt starrer Regeln, Kreativität statt „Dienst nach Vorschrift“, Pausen statt Überstunden. Dinge, die in anderen Ländern längst Regel sind, wie Sabaticals, Teilzeit-Regelungen und längere Elternzeiten müssen endlich hier auch gesetzlich implementiert werden. Leider haben wir, diesbezüglich, mit den Konservativen die denkbar schlechteste aller Parteien als Koalitionspartner.

Wir müssen weg von den falschen Helden und Vorbildern  – von den unnützen, überbezahlten Schlagersternchen, Casting-Show-Moderatoren oder Möchtegern-Supermodels dieser Welt. Wir müssen uns fragen, welche Inhalte unsere Medien vermitteln und nach welchen Idealen wir streben sollen. Wir brauchen wieder eine Idee vom guten Leben.

Denn: Glück und menschliches Wohlbefinden lassen sich in keine Bilanzen schreiben. Tote dagegen sehr wohl.

Auch ich bin gegen die Gefühle, die Robert Enke gehabt haben muss, nicht immun. Und so habe ich, welch ein Zufall, vor einigen Tagen ein recht heftiges Endzeit-Gedicht verfasst und lange überlegt, ob ich es überhaupt veröffentlichen soll. Es heißt „Novembertage“. Meine ganz persönliche Art mit dem Schwarzen Loch umzugehen, ist, es aufzuschreiben. Das hat Robert Enke nicht gekonnt.

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