In Therapie, Teil 4

Dass ich die Zeit habe, all dieses aufzuschreiben, war schon lange ein Wunsch von mir, den die Sucht lange Zeit unmöglich gemacht hat. Sie hat mir einerseits grandiose Erlebniswelten geschenkt, die andere Menschen so nicht erleben (ich rede hier von einer Innenschau), andererseits hat sie mir auch viel Lebenszeit genommen, in der ich zu keiner kritischen Reflektion mehr fähig war. Am Ende wurde die Krankheit zum bestimmenden Moment über alles. Nicht ich bestimmte mein Leben, sondern die Sucht. Sie diktierte meine Handlungen und meinen Tagesablauf mit klarem Ziel: Meine Zerstörung und Vernichtung. Ich war so krank, dass ich noch nicht einmal mehr schreiben konnte, vom Arbeiten ganz zu schweigen. Die Sucht war die Herrin über mein Leben und ich war ihr williger Sklave. Ich ordnete mich ganz der Sucht unter und vergaß dabei mein eigentliches Ich. Das Sucht-Ich ist verschieden vom eigentlichen Ich. Nach einer gewissen Zeit hat das Sucht-Ich das eigentliche Ich so verdrängt, dass nur noch das Sucht-Ich überlebt hatte. Das eigentliche Ich verkümmerte in den wenigen Momenten des Lichts. Ansonsten waren da nur Schatten in meinem Leben und die Lebensaufgabe verkümmerte in diesen Schatten wie eine Pflanze ohne Licht. Und nun erst die Entgiftung, dann Therapie und Adaption – es ist als ob jemand den Vorhang aufgezogen hätte und mein verkümmertes Ich endlich wieder Licht bekommt und Wachstumschancen.

Es ist schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt, unter dem Joch der Sucht dahin zu vegetieren. Und unsere Gesellschaft schaut zu lange weg, wenn ein Mensch süchtig wird und eben nicht mehr Herr seiner gesunden Sinne ist, sondern von der Krankheit gesteuert wird. Ich wundere mich, warum die Evolution uns so geschaffen hat, so dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung (in Deutschland alleine sind geschätzt 9,6 Millionen Menschen direkt oder indirekt von Sucht betroffen) von Sucht befallen wird. Wir reden hier von der Volkskrankheit, deren Folgekosten 70 Milliarden Euro im Jahr sind. Das ist mehr als der Umsatz der Branche. Insgesamt macht die Gesellschaft also auch wirtschaftlich, nicht nur gesundheitlich ein Minus-Geschäft mit der Sucht. Was sind also die Beweggründe, Sucht weiterhin zuzulassen und stiefmütterlich zu behandeln? Gerade beim Thema Alkohol, eines der stärksten Suchtmittel überhaupt. Sind die gesellschaftlichen Vorteile des Trinkens so groß, dass man die Süchtigen als Kollateralschäden in Kauf nimmt und mit Kliniken und Therapien die Folgeschäden versucht zu kaschieren? Dabei ist jeder Suchtverlauf eine Tragödie, wenn er in fortgeschrittene Stadien kommt. Egal, welches Suchtmittel dabei konsumiert wurde.

Nicht dass ich jetzt zum Anti-Alkoholiker mutiert wäre, ich gönne gerne den anderen den Schluck, aber für mich ist es wie bei einer Nuss-Allergie. Schon eine handvoll falscher Nüsse kann mich in Lebensgefahr bringen, genauso ist es mit dem Alkohol auch. Was für den einen ein Stimmungsaufheller, den anderen Medizin, ist Leuten wie mir einfach nur ein Gift, welches uns tötet. Manchmal denke ich an die Leute, mit denen ich meine erste Entgiftung 1999 gemacht habe. Nach der Statistik sind die meisten von ihnen rückfällig geworden und die Hälfte ist tot. Das macht mich sehr sehr nachdenklich.

Warum trinken diese Menschen oder nehmen andere Substanzen zu sich? Die Gründe dazu sind vielfältig, das reicht vom Trinken aus Langeweile bis hin zur Traumabewältigung. Ich kann nur für meinen Teil sagen, dass ich damit versucht habe, einen in mir wohnenden Schmerz zu betäuben. Einen seelischen Schmerz, der nüchtern fast nicht zu ertragen war und der in mir seit meiner frühen Kindheit schlummert. Wodurch dieser Schmerz ausgelöst wurde, ist heute nur schwer zu lokalisieren, Kindheitstraumata sind da ganz wichtige Faktoren neben der sozialen Umwelt in Kindheit und Jugend auch. Aber der Schmerz alleine bedingt noch keine Sucht. Psychische Schäden ja, aber zur Sucht braucht es eben auch das geeignete Suchtmittel. Und weil ständig verfügbar, habe ich schon sehr jung dazu gegriffen. Diese Mischung aus seelischem Schmerz und Suchtmittel haben letztendlich die Sucht hervorgebracht – und die anderen psychischen Krankheiten dann mit sich. Es grenzt an ein Wunder, dass es so lange Jahre funktioniert hat. Funktionieren heißt aber noch lange gut gehen. Wann, Markus, ist es dir zum letzten Mal so richtig gut gegangen? In Deutschland nie, in Afrika sehr wohl.

Ich habe es in Deutschland nicht geschafft, mich von den Kindheitstraumata zu lösen. Das hat auch damit zu tun, in welcher Gesellschaft ich mich befunden habe. Viele der mir am nächsten stehenden Personen sind an der Entstehung der Traumata beteiligt gewesen und ich habe den Absprung aus diesem sozialen System nie richtig geschafft. Trotz aller Versuche der Abgrenzung war der Schmerz der Verletzungen aus der Vergangenheit immer präsent. Ich hätte viel früher gehen müssen und mein altes Leben verlassen.

Auch für die Zukunft ist nicht anzunehmen, dass wenn sich das soziale Umfeld nicht ändert, der Schmerz verschwinden wird. Das wird er nicht, und die Sucht fungiert dabei noch als Verstärker. Sucht bedingt Schmerz und Schmerz bedingt Sucht. Ein Teufelskreis. Auch jetzt beim Schreiben fühle ich das beklemmende Brennen in meiner Brust. Und das trotz der Tabletten.

Der Schmerz macht mich müde. Zwar bei weitem nicht so müde wie anfangs der Therapie hier, da ist vieles besser geworden. Aber dennoch strengt es mich an, den Abwehrkampf gegen den seelischen wie körperlichen Schmerz zu führen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als eines morgens aufzuwachen und der Schmerz wäre weg. Aber das wird wohl eher ein Wunschtraum bleiben. Was ich tun kann, ist die Sucht zu bezwingen und den Teil des Sucht-Schmerz Zyklus zu durchbrechen. Die Sucht geht, der Schmerz bleibt und die große Aufgabe wird sein diesen (Phantom)-Schmerz zu bekämpfen.

Dafür muss ich medikamentös neu eingestellt werden, im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung. Wie diese genau aussieht, vermag ich Stand heute noch nicht zu sagen. Unzweifelhaft sind jedoch Diagnose wie Symptome vorhanden. Was nicht ein wenig Liebe alles heilen könnte…

Aber die Liebe ist fern zurzeit. Ich spüre sie ab und an in Wallungen, kribbelnde Hitzewellen. Aber in diesem Setting hier hat die Liebe einfach keine Chance. Zu vieles an Altlasten wird hier entsorgt und die Seele entrümpelt, was gut ist, denn dann muss ich in der neuen Liebe diese Altlasten nicht mehr tragen, sondern kann befreit und frohen Mutes mich in die neue, echte Liebe stürzen. Ich meine hier nicht einfach eine beliebige Beziehung, sondern die allumfassende Liebe, die alles zusammen durchstehen kann. Alleine die Tatsache, dass ich sie spüre, beweist, dass sie immer noch da ist, obwohl so weit entfernt. „Lieben ist leiden“, habe ich mal geschrieben. Und ich liebe und leide auf hohem Niveau. Nicht „ich liebe dich trotzdem“, sondern „ich liebe dich deshalb“. Liebe kann Berge versetzen und sie hilft mir bei der Bewältigung der Sucht. Denn Abstinenz ist bei mir Voraussetzung für eine Beziehung, auch wenn die Partnerin konsumieren sollte. Ich wünschte mir aber eine Beziehung ohne Alkohol. Denn wie sie mit Alkohol scheitern kann, habe ich in meiner letzten Beziehung schmerzlich erfahren müssen.

Es ist schwer genug mit einem Suchtkranken zusammen zu sein, sind beide abhängig, wird die Beziehung schnell toxisch. Unheimlich aufregend, aber auf Dauer zerstörerisch. Wenn der eine Partner konsumiert, der andere aber versucht davon loszukommen, sind die Chancen ebenfalls nich gut. Besser ist es, wenn beide Seiten dann aus Respekt der Erkrankung sich enthalten. Das tut dem Liebesabenteuer keinen Abbruch, im Gegenteil, es bietet eine sichere Basis für ein längeres Zusammensein. Kann ich mir vorstellen, mit einer Person zusammen zu sein, die abhängig ist? Sicherlich, so lange die Sucht nicht das komplette Leben bestimmt und solange keine gewalttätigen Ausfälle passieren. Wenn ich so etwas wie Leitsätze im Leben entwickelt habe, ist einer von ihnen „keine Gewalt“ in einer Beziehung. Sollte es jemals wieder so weit kommen, werde ich sofort meine Sachen packen und gehen. Alles andere wäre nur Rückfall-Gefährdung.

Eine Sucht (der Begriff kommt von „siechen“) ist mit eine der schlimmsten Erkrankungen, die man als Mensch bekommen kann. Weil sie so lange dauert, chronisch ist – und man am Ende daran stirbt. Das ist einfach wissenschaftliche Tatsache. Viele meiner Altersgruppe sterben an den Folgen ihres Rauchens und Trinkens, oftmals an Folgeerkrankungen, so dass sie in der Sterbestatistik gar nicht beim Thema Sucht auftauchen, sondern einen Herzinfarkt oder Schlaganfall bekommen, der ursächlich beim Suchtmittelgebrauch liegt. Die Dunkelziffer hier ist sehr hoch. Auch ich bin aufgrund meines sägenden Blutdrucks in einer Risiko-Gruppe.

Das nächste sind die eventuell auftretenden psychischen Probleme, wenn ein Partner konsumiert. Diese treten zwar vermehrt beim Konsumierenden auf, überlagern jedoch auch die Beziehung in den anderen hinein. Auch das erzeugt Stress und sollte verhindert werden. Könnte ich mit einer depressiven Person zusammen sein? Sicherlich, wenn sie mit Medikamenten gut eingestellt ist.

Ich bin der letzte, der anderen vorschreiben will, wie sie zu leben haben. Aber ich bin das lebende Beispiel dafür, was auch passieren kann, wenn man nicht früher interveniert, seitens der Gesellschaft genau wie seitens des sozialen Umfelds. Jeder Abhängige versucht in der Suchtphase seine Angehörigen zu so genannten „Co-Abhängigen“ zu machen, das heißt auch das Leben der Angehörigen den Regeln der Sucht zu unterwerfen. Dadurch geraten viele Beteiligte ohne eigenes Zutun in die Suchtspirale hinein, ohne es oftmals bewusst wahrzunehmen („ich wollte dir ja nur etwas Gutes tun“) und befördern den inneren Abwärtstrieb des Abhängigen geradezu. Die Sucht hört nicht auf und endet mit dem Tod, früher oder später. Und viele Angehörige sind dazu verdammt diesen Selbstmord in Zeitlupe mit anzusehen und mitzuerleben. Der Tod eines Süchtigen ist ein grausamer, langer Prozess und oftmals kommt jede Hilfe auch einfach zu spät. Auch bei mir in der Familie hat es diese Fälle gegeben.

Raus aus der Sucht, weg vom Nikotin und Koffein. Das wird die Aufgabe der nächsten Tage sein. Vom Nikotin bekommt man zum Glück nur einen schwachen kurzen Entzug, nach drei Tagen sollte es vorbei sein. Schon einmal habe ich aufgehört mit dem Rauchen, von jetzt auf gleich. An einem Datum, welches ich nie vergessen werde, dem 11. September 2001. Danach war ich rauchfrei bis ins Jahr 2019. Und jetzt rauche ich so viel wie damals. Ich hoffe ja, dass die lange Abstinenz mir die schlimmsten körperlichen Schäden erspart hat, immerhin rauche ich, seit ich zwölf Jahre alt war. Da ist die Macht der Gewohnheit doch groß. Auch hier habe ich das Verhalten bei den Eltern abgeguckt, beide waren starke Raucher zu der Zeit, mein Vater raucht Pfeife bis heute. Auch hier trafen zusammen die genetische Veranlagung zur Sucht und das gelernte soziale Verhalten, welches ausgehend von Kindheit und Jugend das spätere Erwachsenenleben prägt und letztendlich in Krankheit, Siechtum und Tod führt, was das Rauchen auch tut. Es dauert halt nur länger. Ich empfinde beim Rauchen auch keinen Lustgewinn mehr, ich rauche um den unangenehmen Entzug zu entgehen, welcher sich vor allem als schmerzhaftes Kribbeln in Armen und Beinen bemerkbar macht. Sie stehen quasi unter Feuer. Die Polyneuropathie lässt grüßen. Dass nun an der Schädlichkeit des Tabak-Konsums keinerlei Zweifel bestehen, ist ja allen seit Jahrzehnten klar. Und manchmal schäme ich mich dafür.

Das ist mein Traum: Ein suchtfreies Leben! Was für Millionen für Menschen selbstverständlich ist – einen klaren Kopf zu haben, nicht mehr nach Alkohol oder Tabak riechen oder zwanzig Tassen Kaffee am Tag zu trinken. Mein ganzes Leben wurde von dieser Sucht bestimmt und nun bin ich davon richtig krank geworden. So krank, dass ich meine Lebenszeit hier in der Suchtklinik verbringen muss. Zeit, die auch anders und viel nützlicher verbracht hätte werden können. Na immerhin bleiben davon diese Texte und ein paar Bilder aus der Ergotherapie.

Zeit ist ein seltsamer Faktor. Zum einen habe ich hier zu viel davon, andererseits rennt mir die Lebenszeit förmlich durch die Finger und ich verspüre einen dringenden Drang, Dinge aufs Papier zu bringen. Schon morgen könnte es ja vorbei sein. Eine Art Torschlusspanik macht sich breit, die Angst (nicht schon wieder eine Angst!) dass ich das wozu ich auf dieser Welt bin, nicht vollbringen kann, nicht das ausüben, wozu ich bestimmt bin – oder ist es vielleicht genau das, was ich hier gerade tue? Im Kämmerlein beobachten und niederschreiben? Möglichst viel erleben, um es anderen erlebbar zu machen? Kann gut sein. Zumindest kann ich die Krankheit und Genesung beschreiben. Das können auch nicht so wahnsinnig viele Menschen.

Sonntag Morgen. Zu spät aufgewacht für die Kirche. Schade. Ich habe gut und lang geschlafen. Allerdings wirre Träume gehabt, die ich leider nicht erinnern kann. Die Heimfahrt beschäftigt mich. Was wird es wohl für eine Zukunft sein? Ich hoffe, eine gute. Wieder von Schauspielern, Musikern und Politikern gelesen, die einen plötzlichen Tod sterben. Selektive Wahrnehmung? Der Tod kommt näher, Tag für Tag. Für jeden von uns. Wird man im Leben einmal vor den Tod gestellt, ist er präsent, als Gedanke. Wer sich mit dem Tod, oder was danach kommt, einmal richtig konfrontiert sieht, denkt danach anders. Mit dreißig war ich unbesiegbar. Mit fünfzig bin ich besiegt. Der Tod hat sich mir gezeigt, beinahe von eigener Hand, und ich bin dankbar, dass es nicht so weit gekommen ist. Schließlich kann ich noch diese Zeilen schreiben. Es ist Ende November und die Jahreszeit lädt ein zur Besinnung. In den USA ist Thanksgiving und ich erinnere mich mit Freude zurück, als ich dort Thanksgiving im Kreise einer großen schwarzen Familie feiern durfte, und sogar mit der Oma den „Gumbo“ kochen, eine Spezialität aus Louisiana. Mit der Oma kochen zu dürfen, gilt in der dortigen Familientradition für einen Mann als höchste Ehre und ich bin bis heute dankbar für die Erfahrung, die ich dort machen durfte.

Bald ist Weihnachten und ich werde dieses Jahr das Fest nicht zuhause verbringen, sondern in einer Einrichtung. Die Zeiten der großen Familientradition mit den Weihnachtsfeiern mit über 20 Mann sind aufgrund der Corona-Pandemie eh vorbei. Die Tradition ist abgebrochen auch wegen Todesfällen und dem gesundheitlichen Zustand (inklusive meines eigenen). Vielleicht können wir sie ja irgendwann mal unter den jüngeren wieder aufleben lassen. Allerdings bin ich da sehr skeptisch, da die Jungen so sehr mit ihren Alltagssorgen beschäftigt sind und das traditionelle Familienleben in den Hintergrund gerät. Ich werde die stillen Tage für Besinnlichkeit nutzen, eine Kirche besuchen und beten. In diesen Novembertagen gedenken wir still und leise denjenigen, die nicht mehr unter uns weilen. Dazu gehören bei mir auch schon Bekannte von früher, die den Zoll für das Partyleben der früheren Jahre zahlen mussten. Es sind einige viel zu früh verstorben. Einige auch deshalb, weil sie nicht mehr wussten, wie nach der Partyzeit weiterleben. Für manche war die Verbindung zum Nachtleben so stark, dass sie im Tagesleben einfach nicht mehr zurecht kamen und sich schließlich das Leben nahmen. Das wäre beinahe auch mein Weg gewesen. Ich kann sie irgendwie verstehen, denn wer von uns jungen Wilden wollte denn jemals alt werden? Die Vorstellung war uns völlig fremd und nur wenige hatten einen Plan für den Tag X, an dem die Party vorbei war. Und doch stehen wir nun da. Und sind älter geworden und andere Prioritäten müssen gesetzt werden. Es sind auch einige meiner Mitstreiter aus der Techno-Szene sehr krank geworden. Depressionen und Sucht sind bei uns „ehemaligen“ leider ein sehr häufiges Erscheinungsbild. Wir haben unsere Freiheit gelebt – und für viele ist das Eingesperrtsein im bürgerlichen Käfig nur schwerlich auszuhalten. Und so greift manch einer zur Flasche, mit all den Spätfolgen, welche dann folgen.

Ich bin also nicht der einzige, der in diesem Stadium ist. Im Gegensatz zu manchem anderen habe ich aber aktiv etwas dagegen getan. Suchtberatung, Entgiftung, Langzeittherapie – und dann die Adaption. Ich gehe also konsequent die Schritte, die die Gesellschaft für die „Wiederherstellung“ erwartet. Noch kann ich etwas zu unserer Gesellschaft beitragen, meine Erfahrungen teilen und den jüngeren mitgeben. Was sie dann daraus machen, bleibt ihnen überlassen.

Die eine Party ist vorbei für mich, die wilden Jahre sind gelebt, und das reichlich. Ich habe nichts ausgelassen und die Jugend in ihrem Sturm und Drang löst bei mir väterliche Gefühle und ein (alters)mildes Lächeln aus. Ich bin wirklich der letzte, der den jungen Leuten die Party verbieten will. Noch letztes Jahr tanzte ich nächtelang durch, es war ein Heidenspaß. Doch alles hat seinen Preis, den ich nun mit geschundenem Körper in der Reha absitze. Aber im Partyleben konnte ich so richtig aufgehen, den Alltag vergessen. Immer noch bin ich bei der modernen Musik und die Musik war die treibende Kraft im Nachtleben. Ich hasse Ü40 und Ü50 parties und deren Hang zur musikalischen Nostalgie. Sicherlich höre auch ich gerne ältere Sachen, aber meinen Underground-Sound spielen heutzutage nur noch sehr wenige. Im Radio schon gar nicht. Manchmal fühle ich mich ein wenig aus der Zeit gefallen – und wundere mich, dass es seit der großen Techno-Bewegung in den 90er Jahren keine große neue Jugendbewegung gegeben hat. Ist das die Folge von Online-Playlists und -Videos, wo jeder sein eigener DJ sein kann? Und wo der Musik-Geschmack so auseinander driftet, dass es gar kein Bedürfnis für gemeinsame Zusammenkünfte mehr gibt? Was ist mit dem Motto „Love, peace and happiness“ passiert? Der friedliche Protest unserer Generation gegen Gewalt und Misswirtschaft in der Welt? Die Jungen neigen heutzutage eher zum Klima-Aktivisten denn zur Loveparade. An deren Niedergang sieht man das Ende einer Jugendbewegung am deutlichsten. Erst kommerzialisiert, von dem nur ganz wenige Namen profitierten, und dann kaputt organisiert. Mittlerweile wird ein Comeback versucht, aber denselben Effekt wie damals, den selben politischen Zweck dürfte sie nicht mehr erreichen. So wirken wir im Untergrund weiter in unseren Klubs und auf unseren Festivals. Doch der Eifer der Jugend ist dahin.

Aber was will ich jammern, ich war dabei und habe es genossen. Und überlebt. Leider hat man die Chance über die Bewegung Veränderungen in der Gesellschaft herzustellen nicht genutzt. Zu sehr war die Bewegung nach innen gerichtet, zu überwältigt vom großen Erfolg. Es fehlte echte Leadership im „Friede, Freude, Eierkuchen“. Für mich waren es jedenfalls schöne Jahre. Man kann nicht dreißig Jahre Techno machen und dann verlangen, dass man achtzig wird.

Und jetzt kommen eben andere Jahre. Zeiten der Reflektion und der Besinnung und Zeiten für ein anderes Dasein.

Mit dem Rauchen aufhören, das nächste Projekt. Heute rauche ich nur noch die Hälfte, morgen davon die Hälfte und dann ist Schluss mit der Nikotin-Koffein-Spirale, die so unsinnig ist, wie nochwas. Das Gegenteil von Freiheit ist Abhängigkeit und schließlich bin ich hier, um mich davon zu lösen! Warum sollte ich das nicht schaffen, was Millionen von anderen (die Zahl der Raucher geht in Deutschland stetig zurück) auch geschafft haben. Rauchfrei in ein neues Leben! Wünsch mir Glück dabei, Alte Seele. Ich weiß, dass Du mich dabei unterstützt.

Ich bin ja schon mal 15 Jahre lang rauchfrei gewesen und sehne mich danach, endlich wieder atmen zu können, besser riechen und schmecken. Mein lieber Nachbar hat mich vor ein paar Jahren wieder zum Rauchen verführt und schwupps war die Sucht wieder am gleichen Punkt wie vorher auch. Dasselbe Suchtgedächtnis funktioniert auch hier wieder hervorragend. Nun sind aber die schädlichen Auswirkungen des Rauchens (Husten, Atemnot, Herzrasen, hoher Blutdruck) weitaus bestimmender als die kurzfristige Belohnung des limbischen Systems. Der Suchtmechanismus ist beim Tabak wie beim Alkohol derselbe. Also können auch dieselben Tools zur Suchtbekämpfung zum Einsatz kommen. Koffein, Alkohol und Nikotin. Und ich will weg von alledem. Außerdem bieten sie hier in der Klinik auch Kurse zur Raucherentwöhnung an. Einen sehr aufschlussreichen Vortrag dazu habe ich bereits gesehen. Rauchen tötet. Und das nicht zu knapp. Doppelt so viele Menschen sterben am Rauchen als mit Alkohol. Das sollte jeden nachdenklich machen und zumindest den Versuch wagen, aufzuhören. Aber ich will kein Moralapostel sein. Könnte ich mir vorstellen, mit einer Raucherin zusammen zu sein? Ja, durchaus. Wenn der Wille zum aufhören da ist.

Heute Abend gibt es Fußball, Deutschland gegen Spanien, es ist Weltmeisterschafts-Gruppenphase in Qatar und es ist gut möglich, dass Deutschland die Gruppenphase nicht übersteht. Na ja, hoffentlich regt das Spiel mich nicht so auf wie das letzte. Wir werden sehen. Ein wenig Lesen noch davor. Und, was ist passiert? Verschlafen habe ich das Spiel! Da sieht man mal wieder, wie tief die Therapie in mir wirkt und wie tief ich mit meinen eigenen Sachen mich beschäftige, dass ich sogar so ein „wichtiges“ Spiel verpasse. Macht aber nichts, es wurde ein laues 1:1 draus.

Gruppentherapie über Beziehungen und Reha. Ich kann da schlecht mitreden, da ich im Moment (gottseidank) keine aktive Beziehung führe. Die Therapie macht Wesensveränderungen mit uns und ich will, dass meine Partnerin mich im nüchternen Zustand kennen lernt. Meine Persönlichkeit ändert sich im Laufe der Wochen. Ich spüre deutlich den Einfluss der Beschäftigung mit mir selbst und spüre die Krankheit auf dem Rückzug. Sie ist immer noch da, aber ich lerne im Alltag damit umzugehen. Panikattacken hatte ich das dritte Wochenende (sie traten da immer gehäuft auf) nicht mehr. Gottseidank, Aber ich spüre deutlich die Medikamente und mein Blutdruck ist viel zu hoch (160 in Ruhe) und auch der Ruhepuls ist zu hoch, über 100 Schläge die Minute. All das zeugt von innerer Unruhe und Rastlosigkeit, die mich immer noch plagt. Die Allergie wird besser, die Ausschläge gehen zurück und ich lasse mir jetzt die Haare länger wachsen. Das macht mich zwar älter, ist aber im Winter nicht so kalt. Tagsüber trage ich eh eine Mütze und Winterjacke.

Insgesamt geht es mir durchwachsen. Morgens bin ich fit, denn ich schlafe gut und viel, viel mehr als zuhause, wo oft nur vier oder fünf Stunden drin waren, hier sind es zehn bis zwölf. Keine Ahnung, was mein Körper da macht, aber am Schlafmangel kann es nicht liegen, dass ich nachmittags sehr müde werde. Von der alten Leistungsfähigkeit bin ich noch ein ganzes Stück entfernt, aber es wird von Tag zu Tag besser. Was ich vermisse, sind echte Glücksmomente, die kann der Alltag hier leider nicht liefern, dafür aber eine stetige Zufriedenheit in Sicherheit. Sicherheit ist ein großes Thema geworden nach dem Überfall in Polen, der ja doch ein Trauma zurückgelassen hat und dessen Spuren vor allem in der Psyche noch deutlich vorhanden sind. Dieses Trauma wurde therapeutisch auch noch nicht wirklich angegangen, anders als die Kindheitstraumata die ich in der Gruppe auch schildern durfte. Es geht hier ja nicht nur um die letzten Jahre meines Lebens, sondern wir betrachten ja den gesamten Lebenslauf und hier fügen sich Ursachen und Wirkungen langsam zu einem Gesamtbild – und ganz so schlecht sieht das gar nicht aus. Ich weiß nun um den Dämon, den ich bekämpfen muss und ich weiß auch, wie ich das tun kann. Zumindest hier in der Klinik funktioniert das auch. Der wahre Test wird dann bald draußen im Leben stattfinden, wenn die Erholungspause (die ja aktive Arbeit an sich selbst ist) wieder vorbei ist. Wir sind ja nicht zum Spaß hier und das ist auch kein Wellness-Urlaub. Wir arbeiten hart an der Überwindung einer der schlimmsten Krankheiten, die ein Mensch bekommen kann! Denn kaum eine Krankheit führt in so ein lang andauerndes und grundlegendes Leiden, welches dann am Ende in einer sehr langen Agonie und schließlich im Tod endet.

Dienstag. Rien ne va plu – Nichts geht mehr. Ich habe lang geschlafen und bin schon mit einem seltsamen Gefühl aufgewacht. Nicht nur das Früstück habe ich verschlafen, sondern beinahe sogar das Mittagessen. Hunger hatte ich keinen und habe nur die halbe Portion vom Schweinebraten hinuntergewürgt, widerwillig. Beinahe musste ich mich übergeben dabei. Das Essen wird zu einem Problem. Ich habe einfach keinen Appetit. Danach wurde mir so schwindelig, dass ich kaum den Aufzug zum Zimmer geschafft habe. Ich musste mich hinlegen und versank in eine tiefe Meditation. Ich nenne sie „Licht-Medidation“. Am Anfang ließ ich mich in den Schwindelsog fallen. Ich fühlte absolute Verzweiflung hochkommen und war nicht in der Lage mich zu bewegen oder den Schwindel zu stoppen. Also sank ich immer tiefer in den Schwindel hinein. Bis ich plötzlich das Licht sah. Ein warmes helles Licht, gesprenkelt mit hellen Sternchen. Mein Körper verkrampfte sich. Das Licht kam näher und füllte mein gesamtes Schichtfeld. Meine Arme und Beine kribbelten und wurden langsam taub. Ich zitterte. „Komm in das Licht“, flüsterte meine innere Stimme. Hier ist es schön und ruhig. Gedankenfetzen an die Alltagssorgen versuchten mich abzuhalten, in das Licht zu gehen. Ich hatte Todesangst und war bereit zu sterben, sollte das Licht jetzt das Ende sein. Ich zog Resümee über mein bisheriges Leben und beschloss, dass es gut war. Also ging ich in das gelblich-rötliche Licht, welches vor meinen Augen schwebte. Wie Sternennebel waberte es hin und her. Ich wälzte mich im Licht, mein Körper verharrte regungslos in einer Starre. Metallener Geschmack machte sich in meinem Mund breit. Ich atmete tief und ruhig und lies das Lichtspiel vor meinem Augen passieren. Ich wollte mich von meinem Körper und diesem Leben lösen. Komm in das Licht, rief die Stimme. Das Licht ist immer bei dir. Es strahlt aus deinem Inneren und du kannst immer zum Licht zurückkehren. Ich war wach, aber von der Außenwelt durch einen unsichtbaren Schleier getrennt. Meine Augen begannen zu tränen. Mein Bauch grummelte. Der ganze Körper befand sich in hoch erregtem Zustand. Ich lies das Licht gewähren und gewaltige Farbwolken taten sich vor meinen Augen auf. Ich spürte die Wärme und kniff meine geschlossenen Augen weiter zu. Strahlen trafen mich. Sterne leuchteten auf wie bei Sternschnuppen. Ich flog weiter in das Licht. Im Licht gibt es keine Schmerzen und keine Sucht, keinen Entzug und keine Therapie. Das Licht würde mich immer begleiten und von innen Leuchten, wenn ich es nur zuließe. Das Licht würde von nun an mein ständiger Begleiter sein, den ich immer rufen kann.

Ich fühle mich tiefenenstpannt nach dieser Meditation, allerdings auch ein wenig zittrig. Mein Zeitgefühl ist verzerrt, die Zeit vergeht rasend schnell. Kaum ist Morgen, ist auch schon wieder Abend, kaum ist Montag, ist schon wieder Montag. Kaum ist der erste im Monat, ist schon wieder der erste im Monat. Tief im Innern spüre ich ein Glücksgefühl, welches von innen kommt. Meine Augen tränen und ich weiß nicht, warum. Ich leide an Nikotin-Entzug, welcher sich in vermehrter Durchblutung meiner Hände und Füße, sowie ein Brennen in der Lunge bemerkbar macht. Ich esse einen Apfel und muss ihn hinunter würgen. Mein Körper widerstrebt jeglicher Nahrung.

Ich wünsche mir, das Licht könnte mich ernähren, so wie es meine Seele nährt, Heftiges Ohrensausen setzt ein. Ich nehme meine Tabletten und hoffe. Ich rieche seltsam und muss mich duschen.

Adaption dann als nächstes. Doch kein zurück ins alte Zuhause, so langsam bezweifle ich, dass ich son schnell wieder die alte Wohnung sehe. Es geht jetzt Schritt für Schritt, wie bei einem Kleinkind in die neue Erfahrung. Da muss man mir auch mal, wie bei einem Kleinkind das Händchen halten. Ja, so fühle ich mich im Augenblick. Aber andererseits ist es auch ziemlich spannend, einen wiederum neuen Schritt zurück ins Leben zu tun. Hier in der Klinik ist man ja doch sehr eingeschränkt und unter ständiger, wenn auch subversiver Kontrolle. Nie weiß man genau, wann man zur Blutentnahme oder zur Urinkontrolle muss. Aber das ist auch gut so, denn auch das schützt vor dem Gespenst des Rückfalls, egal ob „trocken“ oder „nass“, wobei letzteres das Schlimmste wäre, was einem nach zwölf Wochen in der Suchtklinik passieren könnte. Davor habe ich, nein, keine Angst, aber höchsten Respekt. Die Sucht ist ein schwieriger Gegner und sie arbeitet mit List und Tücken. Just in dem Moment, in dem es dir „zu gut“ geht, schlägt sie womöglich zu. Da hilft nur Achtsamkeit und die Besinnung auf die vielen Skills und Tools, die man in den Gruppen- und Einzeltherapien gelernt hat. Und dennoch, die Sucht lauert immer, jetzt gedrängt in den Hintergrung aber sie ist stetig Präsent, auch 150 Tage danach. Sie wird auch in Zukunft eine ständige Begleiterin sein. Nur ist sie schlecht für mich und gewiss keine gute Ratgeberin. Es ist wie eine toxische Beziehung. Wenn man merkt, dass es einem nicht gut tut, sollte man schnellstmöglich die Beziehung für immer beebden.

Ich habe das in meiner letzten Beziehung getan, die von beidseitigem Trinken und immensen Streits im betrunkenen Zustand geprägt war. Eine super liebevolle Partnerin, klug, erfolgreich und sehr intelligent. Ich habe die Zeit mit ihr genossen, wir haben zusammen Bücher gelesen und Dokumentationen geschaut. Sie ist eine der wenigen Menschen, die ich kenne, die zur kritischen Reflektion fähig ist, egal wie schwierig das Thema auch war. Wir haben über Rassismus debattiert, weil sie schwarz und ich weiß bin. Über Rassen- und andere Politik. Sie hat mich weiter in das Denken der farbigen Communities in den USA eingeführt. Wir haben über Wirtschafts- und Sozialpolitik diskutiert, sie als Amerikanerin ist auch Sozialistin und wählte Grüne Außenseiter-Kandidaten. Wer hätte das von einer Tochter eines gutbürgerlichen Hauses, welches in der Tradition immer mit Sicherheitspolitik zu tun hat, geglaubt. Ich konnte sogar manchen ihrer Thesen zustimmen, in anderen Dingen ist sie zu radikal. Und sie kann sich nicht beherrschen, wenn sie getrunken hat. Dann sind ihre Verletzungen seelischer Art so präsent, dass sie die Beherrschung nicht nur einmal verloren hat – und sehr verletzend werden kann. Da ich Gewalt als Kind erfahren habe, lehne ich jede Form von Gewalt in einer Beziehung ab. Und so musste ich dann gehen, als die Beziehung toxische Züge bekam. Ich habe jetzt, vier Jahre danach, keine neue Beziehung mehr angefangen und glaube auch nicht daran, dass ich über das Internet nochmals das Glück haben sollte, jemanden zu finden, der so weit gleicht tickt wie ich. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so, denn zwei Alphatiere passen schlecht in einen Käfig, dann schon gar nicht, wenn einer oder beide permanent betrunken sind.

Ich habe aus der Beziehung aber etwas gelernt: Suche nicht dich selbst im anderen, wenn du nicht mit dir Selbst im Reinen bist, denn eine solche Beziehung kehrt deine inneren Konflikte nach außen und sie werden notwendigerweise zu bearbeiten sein – und je nach Fähigkeiten und Konfliktbearbeitungspotential des anderen an den Tag treten. Ich mache ihr keine Vorwürfe und liebe sie nüchtern immer noch, aber zu einer Beziehung kann es unter diesen Umständen nicht mehr kommen. Dazu bin ich immer noch zu instabil. Der einzige Weg wäre, dass beide auf das Trinken verzichteten und einander sehr viel mehr Freiraum ließen. Aber das ist Wunschdenken meinerseits, denn sie funktioniert (noch) in der Gesellschaft zu gut. Ich wünsche ihr alles Gute und bin als Freund und Ratgeber für sie da. Sie weiß ja,wie sie mich erreichen kann.

Warum bringe ich dieses Thema auf, Alte Seele? Ja, weil das Thema Nicht-Beziehung ein großer Faktor in meiner Krankheitsgeschichte ist. Weil Beziehungen wichtig sind und weil die Einsamkeit ein Risikofaktor für meine Erkrankung ist. Es ist ein zweischneidiges Schwert, einerseits möchte man sich binden und Fürsorge erfahren (beiderseits), andererseits möchte ich niemandem mit meinen Problemen zur Last fallen. Es wäre schön, eine funktionierende Beziehung zu haben, doch auch diese Schützt im Ernstfall vor der Sucht nur wenig. Oft entstehen Co-Abhängigkeiten oder Erpressbarkeit auf beiden Seiten. Und an der Seite eines konsumierenden Alkoholikers zu stehen ist eine nahezu unmögliche Aufgabe. Wer möchte schon dem anderen beim Suizid in Zeitlupe, denn nichts anderes ist der Alkoholismus in der Spätphase, zusehen, beziehungsweise ihn dabei auch noch unterstützen? Andererseits kann eine gute Beziehung ja durchaus dazu geeignet sein, weg von der Sucht zu kommen.

Und genau so eine Partnerin wünsche ich mir. Dabei kann von Vorteil sein, wenn sie selbst Erfahrungen an sich oder in der Familie diesbezüglich hat.

Samstag Morgen. Einen Apfel zum Frühstück. Ich habe das reguläre Frühstück verschlafen, aber die paar leeren Kalorien von dem Marmeladebrötchen lasse ich mal weg, das schadet nichts und tut der Figur auch gut. Mein Projekt „rauchfrei“ geht in sofern weiter, dass ich das Rauchen drastisch reduziert habe – von einer Schachtel auf zirka fünf Zigaretten am Tag. Ich spüre den Nikotin-Entzug deutlich, mein Geschmackssinn hat sich verbessert und erst jetzt merke ich, wie scheiße eigentlich die Zigarillos schmecken! Pfui. Den Rest des Rauchens bekomme ich auch noch weg, doch gut Ding will Weile haben. Ich habe permanent das Bedürfnis zu duschen und den ekelhaften Rauchgeruch aus den Klamotten zu bekommen. Es ist schon bescheuert, was wir uns mit unseren Süchten selbst über die Jahre antun!

Apropos Sucht und Liebe. Wie geht man damit um, wenn der/die Partner/in einen im betrunkenen Zustand kennen und lieben gelernt hat und dieser jemand plötzlich nüchtern und abstinent erscheint? Das bringt so manche Beziehung an den Rand der Verzweiflung, weil man den anderen plötzlich in einem komplett neuen Licht sehen muss. Die Sucht hat auch ihre schönen Seiten, gerade in Beziehungen, wenn Tabus gebrochen werden und die Last des Verstandes nicht der Lust des Körperlichen im Wege steht. Es ist eben einfach „drauf“ neue Leute kennen zu lernen und sich auf der Stelle zu verlieben. Ein ganz anderes Blatt ist jedoch, den stinknormalen Alltag miteinander zu bewältigen, ohne die Ausgelassenheit des Rausches oder ohne die Tabulosigkeit des Nachtlebens. Es ist schön, betrunken verliebt zu sein. Aber es ist tausendmal schöner, es nüchtern zu sein.

Deshalb habe ich den Weg der Beziehungslosigkeit gewählt, zumindest so lange, wie die Sucht ein Thema ist. Schließlich will ich eine Partnerin und keine Pflegekraft. Doch wie wir alle wissen, ist die Liebe stark, dort wo sie hinfällt und sie kommt, ob wir es nun wollen oder nicht, in ihren verschiedenen Gestalten (vergleiche Gedicht Regenbogen der Liebe) daher. Und wir Menschen sind relativ machtlos gegenüber der Kraft der Liebe, wenn sie uns trifft. Ich habe immer schon die großen Liebesgeschichten der Geschichte bewundert, auch wenn die meisten davon über kurz oder lang in Tragödien enden. „Die Liebe endet nimmermehr“, steht über der Tür an der Grabkapelle auf de, Württemberg, einst errichtet vom König für seine jung verstorbene Königin. Oh, wie wahr ist dieser Satz. Die Liebe endet nimmermehr und manchmal geht sie auch über den Tod hinaus.

Ich glaube fest an ein Leben nach dem Tod. Ich glaube fest an Wiedergeburt der Seele. Ich glaube, dass das seelische, welches wir noch lange nicht hinreichend erforscht haben, in der Lage ist, Zeit und Raum zu überwinden. Ich glaube, dass wir sowohl körperliche, wie geistige und seelische Wesen sind und dass manche von uns die Gabe haben, seelische Dinge zu schauen und manchmal auch zu leben. Dass ein Verständnis für das Unerklärliche im Leben existieren kann und dass es weitaus weniger Zufälle gibt als gemeinhin angenommen. Ich glaube nicht an einen fixierten Determinismus und ich glaube, dass wir einen freien Willen zumindest in Teilen haben, jedoch im Rahmen unserer individuellen Umstände und Fähigkeiten.

Ich glaube fest daran, dass es eine höhere Macht gibt, die uns Möglichkeiten gibt, unser (dieses) Leben in verschiedene Richtungen zu lenken. Die Frage an uns Menschen ist, ob wir diese Steuerung akzeptieren oder verbissen dagegen ankämpfen – und im Tod spätestens verlieren. Die Macht eines Menschen ist endlich. Die Macht der Seele und der Liebe hingegen währt ewig.

Wozu gibt es denn die Liebe? Wir brauchen sie nicht, um zu überleben. Kinder können auch ohne Liebe gezeugt werden, das Überleben unserer Spezies ist davon nicht abhängig. Heutzutage und in Zukunft kann neues Leben im Reagenzglas erzeugt werden. Ganz ohne menschlichen Zutuns. Auch können die Kinder in liebloser Umgebung groß gezogen werden, wie ja die Erziehungslager in autoritären Staaten zeigen. Auch dafür brauchen wir die Liebe nicht unbedingt. Warum also hängen wir an einer Konstruktion, die technisch gesehen gar nicht mehr notwendig ist?

Ist die Liebe ein Evolutions-Schritt oder ein Überbleibsel aus einer anderen Kultur? Und doch ist es so, dass die meisten Lieder wegen der Liebe geschrieben und gesungen werden. Die allermeisten Gedichte und Geschichten ranken sich um die Liebe. Leben ohne Liebe ist möglich, aber sinnlos.

Verleiht also die Liebe dem Leben erst den Sinn? In unserer westlichen Welt haben wir in unseren Paarbeziehungen der Liebe eine große Bedeutung eingeräumt. Arrangierte Ehen sind bei uns die Ausnahme. Das hat seine Ursache in der Religion der Liebe, die gepredigt wurde über Jahrhunderte lang und in der Aufklärung, welche die Rechte des Einzelnen zumindest auf die gleiche Stufe der gesellschaftlichen Pflichten gestellt hat. Das ist bei weitem nicht in aller Welt so. In anderen Kulturkreisen sind Liebe und Heirat immer noch getrennt und arrangierte Ehen an der Tagesordnung.

Ich sehe in der Macht der Liebe, und ja sie kann sehr machtvoll sein, in unseren Gesellschaften einen Fortschritt, einen Weg der Menschen zu ihrem ganz persönlichen Glück. Nur leider zeigen unsere Scheidungsraten, dass das, was die Menschen als Liebe betrachten, es oft nicht ist, sondern eher ein Verliebtsein (ja, auch ich verliebe mich schnell). Haben wir, trotz Jahrhunderten der Reformation und der Aufklärung das Konzept der Liebe immer noch falsch verstanden?

Mein Traum, und hier bin ich als Kind meiner Gesellschaft, ist der etwas naive Traum von Frau und Mann, die in Liebe leben, in Liebe Kinder zeugen und Großziehen. Das Grundbedürfnis von Bindung äußert sich im Wunsch nach Liebe.

Wie sieht diese Liebe aus? Nun, in erster Linie heißt Liebe – sich kümmern. Um den anderen kümmern, an ihn denken, sich altruistisch in den anderen hineinversetzen, Dinge und Lebenszeit teilen, gemeinsam Dinge tun und erleben, geben mehr als nehmen. Liebe ist nicht Kontrolle, sondern Liebe gibt Freiheit und Sicherheit. Wahre Liebe fordert nicht, sie gibt. Gegen alle Widerstände.

Ich stelle mir die Frage, woher diese Liebe kommt. Wir wissen von Tieren (Papageien, Pinguine, Elefanten etc.) dass lebenslange Bindung an den Partner schon früh in der Evolution verankert ist. Ist das Liebe, wie wir sie definieren oder nur evolutorisches Nützlichkeitsdenken? Ich für meinen Teil glaube, dass auch Tiere eine Seele haben, dass auch sie, wenngleich auch mit anderen Möglichkeiten an dem Seelenleben teilhaben, aus dem unser Begriff der Liebe erwächst. So hatte ich einmal einen Hund, den ich hergeben musste – ein paar Wochen später war der Hund tot, weil er seine Bezugsperson verloren hatte.

Die Liebe kann also durchaus tödlich sein, das „Broken-Heart-Syndrom“, das Sterben am gebrochenen Herzen ist ein reales Phänomen. Viele Süchtige leiden darunter. Liebe kann sehr verletzend sein, vor allem dann, wenn sie einseitig ausgenutzt wird. Liebe kann geben aber genauso nehmen.

Wenn wir nun in einer Gesellschaft leben, in der die Idealvorstellung die liebende Familie ist, in der alle Regenbogen-Farben der Liebe auftreten, so müssen wir in der Gesellschaft Mechanismen einbauen für diejenigen, bei denen es eben nicht klappt.

Woher kommt nun die Liebe? Ich weiß es nicht, ich kann, genau wie jeder andere Mensch nur mutmaßen. Von Gott, sagen die Religiösen. Von der Natur, sagen die Biologen und Atheisten. Vom Menschen selbst, sagen die Anthropologen. Von der Gesellschaft, sagen die Soziologen, von innen, sagen die Psychologen. Wissen tut es meines Erachtens nach niemand.

Liebe tut gut. Sie setzt ungeheure Kräfte zum Guten frei. Ein Leader, der sein Volk liebt, würde es nie einem Krieg aussetzen. Krieg ist das Gegenteil von Liebe. Krieg vernichtet, Liebe schafft. Es heißt ja nicht umsonst „Mit Liebe gemacht“ und nicht „mit Liebe vernichtet“.

Wir sollten uns in der Gesellschaft mehr Gedanken um die Liebe machen, und der Liebe mehr Chancen geben. Beziehungen sollten mehr Raum bekommen (fast 40% der Haushalte in Stuttgart-Mitte sind Singles) und der Staat sollte mit Familienhilfen die Liebenden noch mehr unterstützen. Ich plädiere für eine Single-Steuer, deren Ertrag man direkt Familien zugute kommen lässt. Denn in Liebe erzogene Kinder geben die Liebe, die sie erfahren haben auch weiter. Zudem sind sie robuster gegen psychische Erkrankungen oder Suchtkrankheiten.

Liebe gibt Stabilität (die ich als Erwachsener so vermisse) und halt, sie baut ein Ur-Vertrauen in das menschliche Beziehungsgefüge ein. „Was du säst, das wirst du ernten“, und von in der Kindheit erlebten Liebe zehren wir ein Leben lang. Oder, wenn sie nicht da war, leiden wir ein Leben lang. Ich fürchte bei mir ist es Letzteres. Und dennoch bin ich fähig, zu lieben. Ich war schon oft in meinem Leben ver-liebt. Das sicherlich. Aber echte Liebe durfte ich nur zwei Mal erleben. Doch dazu später mehr. Mittagessen.

Ich sehe also die Liebe als ein reales Faktum im menschlichen Leben an, nicht nur ein verklärtes romantisches Vorstellungsbild. Liebe in all ihren Facetten macht (für mich) das Leben erst lebenswert. So liebe ich meine Tochter, ohne sie mit meiner Liebe zu strangulieren. Denn, Liebe ist nicht Kontrolle. Auch solche Partnerschaft habe ich erlebt, wo Eifersucht mehr zählte als Liebe. Wahre Liebe kennt keine Eifersucht. Sie lässt Raum und vergeht nicht. Liebe kann man nicht vernachlässigen, Menschen schon. Liebe kann man nicht kontrollieren – Menschen schon. Liebe kann man nicht ausbeuten – Menschen schon. Wir merken also, die Liebe steht über den Dingen, manchmal auch in den Dingen. Denn auch dieser Text ist mit viel Liebe geschrieben.

Wird man ohne Liebe krank? Kann sein, muss aber nicht. Es gibt zahllose Beispiele wie meines, wo die Lieblosigkeit und Traumata der Kindheit erst im reifen Erwachsenenalter in der so genannten „Midlife-Crisis“ wieder auftauchen. Erst jetzt, mit einigem Abstand bin ich in der Lage, das Vergangene zu analysieren und hinzunehmen. Festzustellen, dass die Liebe in meinem Leben bevor ich erwachsen war, eben nicht das entscheidende Moment der Erziehung war, sondern ein mir unerklärlicher Hass. Alleine meine Existenz schien diesen Hass zu rechtfertigen. Ein Hass, der niemals von mir aus ging – schließlich war ich ja ein Kind. Aber anscheinend habe ich die Erwartungen meiner Eltern (sofern sie je welche hatten) so bitter enttäuscht, dass Liebe in Hass und Verantwortung in Verwahrlosung um schlug. Warum das so war, ist mir bis heute ein Rätsel.

Hätte ich in der Kindheit mehr Liebe erfahren, wäre ich heute nicht so krank, wie ich bin. Das ist ein Fakt und nicht mehr rückgängig zu machen. Wir können die verursachten psychischen Schäden mit Therapien und Medikamenten versuchen auszubessern. Aber die Schäden sind da, lassen sich nur bedingt heilen und sorgen für große Trauer und Ärger jetzt im älter werdenden Markus, der ja nicht beschädigt auf die Welt gekommen ist, sondern dem diese Schäden beigefügt wurden, ob nun mit Absicht oder nicht.

Von Anfang an zeichnete sich eine Inkompatibilität zwischen mir und meiner Familie ab, die leider bis heute anhält. Statt um meine Position im Familienverbund zu kläffen, zog ich mich immer weiter in meine Welt der Bücher und Geschichten zurück, las die großen Dramen als wären sie mir passiert und lebte dann die eigenen Dramen aus.

Sonntag Morgen. Ich halte stille Andacht im Zimmer. Mein Projekt „rauchfrei“ geht weiter, nun bin ich bei zwei Zigarillos am Tag! Die letzte dann heute nach dem Mittagessen. Dann hoffentlich habe ich das geschafft. Nebenwirkung: Ich bemerke erst jetzt, wie stark ich nach Rauch rieche! Ich habe das Bedürfnis, alles zu waschen, um den Gestank, und ja es ist ein Gestank, aus den Klamotten los zu bekommen. Die letzte Therapie-Woche fängt an und es ist Zeit, Fazit aus dieser Langzeit-Therapie zu ziehen. Die Alkohol-Entwöhnung hat gut geklappt, das Trinken ist im Augenblick weit weg und ich spüre, wie sich mein Körper schrittweise erholt. Ich habe viel über die Sucht gelernt, nicht umsonst hat die Klinik einen guten Ruf. Das Motto hier würde wohl heißen „hart aber herzlich“. Es ist schon eine andere Welt in so einer großen Einrichtung mit 300 Patienten, ein ständiges Kommen und Gehen. Richtige Freundschaften konnte ich hier nicht entwickeln, leider. Aber das sollte eben nicht sein. Gute Therapeut-Patient-Beziehungen schon. Das würde ich gerne weiter vertiefen, aber das ist eben nicht möglich. Draußen bin ich auch auf mich alleine gestellt.

Ich habe viel über meine Krankheit erfahren und neue Tools und Skills gelernt, diese auch zu beherrschen. Es liegt in Zukunft alleine an mir, ob ich den Weg des Lebens oder des langsamen Todes gehen will. Auf jeden Fall wurde mir ein gangbarer Weg aufgezeichnet und aus der Reflektion und Beschäftigung mit der Vergangenheit, auch mit der weiter weg seienden Vergangenheit einiges klarer, was meinen Lebenslauf betrifft. Und, ganz wichtig: Dass es eben noch nicht vorbei sein muss. Dass es noch eine Zukunft gibt, solange ich eben nicht rückfällig werde. Mit Alkohol gibt es nur Leid, Schmerzen und Tod. Meine Krankheit ist in einem Stadium, in dem es kein wenn und aber mehr gibt – 40 Jahre Sucht hinterlassen ihre Spuren; körperlich, geistig und vor allem auf der emotionalen, Seelenebene.

Man könnte meinen, sechzehn Wochen Therapie wären lang. Sind sie nicht. Die Prozesse, die zur vollständigen Genesung führen, können hier nur angestoßen werden. Durchführen muss ich die Genesung aber selbst, draußen, auch unter Exposition mit dem Suchtmittel. Was hier an Prozessen begonnen wurde, muss ich in Adaption, Nachsorge und Psychotherapie alleine weiter führen. Aber dann winkt eine hoffentlich lange, so lang wie die letzte, (15 Jahre oder länger) Zeit der Abstinenz in einer neuen Lebensphase, in die ich etwas verunsichert noch aber frohen Mutes gehe.

Ich habe gelernt, die Krankheit zu be-greifen, die negativen Gefühle zu erkennen, die mich früher zum Trinken gebracht haben. Ich habe Hilfsmittel (Medikamente), um diese Gefühle (denn die Sucht wird gesteuert von dem Teil im Hirn, in dem Emotionen entstehen, dem limbischen System) zu beeinflussen. Dazu gehören auch Meditation und Gebet. Ich weiß jetzt, wie ich die Panikattacken behandeln kann und die Angstattacken im Griff halten. Dabei hilft mir die Lichtmeditation.

Ich gehe aus dieser Klinik auf dem Papier kränker als ich gekommen bin. Aber die neue Diagnose, die die Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend mit einbezieht, ist mir sehr willkommen, denn sie ermöglicht weiter gehende, langfristige und tiefe Therapie-Arbeit an meiner Seele. Den oder die geeigneten Therapeuten zu finden dürfte mit Hilfe der Suchtberaterin auch machbar sein, so dass ich hoffentlich nicht durch das Netz im Gesundheits-System falle. Eines ist auf jeden Fall klar, bevor die Suizidgedanken wiederkommen, hole ich Hilfe – und sei es mit dem Notarzt in die Psychiatrie.

Was ich hier auch gelernt habe, ist, dass das Leben an sich einen Wert hat, dass meine Existenz einen Wert hat. Dass die Gesellschaft der Meinung ist, in mich noch einmal investieren zu wollen. Dass ich meinen Beitrag leisten kann, hat die erfolgreiche Arbeitstherapie gezeigt. Ich hoffe, dass ich endlich meinen Platz am Rande der Gesellschaft finde, an dem ich mit dem was ich mitbringe, auch weiter wirken kann. „Ich bereue nichts“, singt Edith Piaf. Ich bereue sehr vieles und das in mir brennende Gefühl der Angst hat auch etwas mit Reue zu tun. Ich habe durch mein Verhalten auch andere Menschen verletzt und das gilt es wieder gut zu machen. Es beginnt mit dem Vergeben an sich selbst. Wenn ich mir selbst nicht vergeben kann, ist es relativ sinnlos von anderen Vergebung zu erwarten. Ich bin ein Kind meiner Zeit und lebe teilweise die Fehler der Erziehung in den 1970er Jahren. Und da bin ich nicht alleine, wie viele Mitpatienten hier berichten können. Wir sind das Ausschuss-Produkt einer damals herrschenden Utopie der „freien Erziehung“, und die Schranken, die wir damals gebraucht hätten, wurden in der liberalen Gesellschaft viel zu spät hochgezogen. Ich plädiere nicht für eine konservative Erziehung, aber gewisse Schranken im Bezug auf Suchtmittel, zum Beispiel, fehlten in meiner Sozialisation. Und da bin ich wahrlich nicht der einzige.

Und so kämpfen wir Jahrzehnte später mit den Folgen einer Krankheit, deren Wurzeln vor 50 Jahren gelegt wurden. „Laisser faire“ führt eben nicht nur zur Entstehung eines verantwortungsvollen, sich und andere liebenden Menschen, sondern auch zur Gewalt und Depression. So lassen sich die Langzeitfolgen einer gescheiterten gesellschaftlichen Utopie in der Suchtklinik Jahrzehnte später besichtigen. Und meiner Meinung nach ist das erst der Anfang, denn die Jahrgänge, die es noch schwerer haben werden, was Sucht betrifft, mit den neuen Süchten des Internets und legalisiertem Cannabis rollen ja erst auf die Kliniken zu. Der Alkoholkonsum dagegen nimmt trendmäßig ab, wobei eine Differenzierung zwischen Nicht- und Extremgebraucher stattfindet, und letztere dann nach Jahren in der Klinik landen werden, sofern die Gesellschaft Mittel dafür bereitstellt. Und ob das mit dem Fachkräftemangel dann zu bewerkstelligen ist, ist fraglich. Das Problem Substanzengebrauch ist nicht nur mein persönliches Problem, sondern eines, welches Millionen von Menschen auf dem ganzen Planeten betrifft und schon winkt die Opioid-Schwemme über den Atlantik, betroffen sind vor allem Frauen.

Das Gute an einer Suchterkrankung ist ja, dass man sie stoppen kann. Im Gegensatz zu einem aggressiven Krebs zum Beispiel hat man Zeit, das Suchtmittel zu entziehen oder das Suchtverhalten zu ändern. Die Krankheit verläuft gewissermaßen in Zeitlupe. Sie lässt jahrzehntelange Behandlungen und Therapien zu. Man hat genügend Zeit, verschiedene Methoden und Ansätze auszuprobieren, denn die Patienten überleben in der Regel eine sehr lange Zeit mit der Sucht.

Eine einmal erworbene Sucht ist nicht heilbar, aber sie ist therapierbar und in eine Art Tiefschlaf versetzbar. Ein langes, gutes, abstinentes Leben ist auch mit der Diagnose Suchterkrankung möglich. Dabei sind die Zahlen gar nicht so schlecht, wie immer verbreitet wird. Zirka die Hälfte aller Langzeit-Patienten schafft es über Jahre nach der Therapie auch suchtmittelfrei zu bleiben.

Bei der anderen Hälfte hingegen sieht es nicht gut aus. In der Langzeitbetrachtung sterben viele der rückfällig gewordenen innerhalb weniger Jahre an den Folgen des weiteren Konsums. Schließlich sind die Suchtkliniken oft das letzte Mittel, um den Teufelskreis von Sucht und Depression zu durchbrechen. Und jede Woche sterben tausend Menschen und mehr allein an den Folgen des Alkohols in Deutschland. Vor der drohenden Schwemme an alkoholisierten Rentnern habe ich schon berichtet. Der demographische Wandel macht auch vor der Sucht keinen Halt.

Im Prinzip ist es ganz einfach: Lass es sein! In dieser Therapie geht es nicht darum, etwas zu tun. Es geht darum, schädliches Verhalten abzustellen. Und dafür muss man etwas tun. Man muss seine Vorurteile und seine sorgfältig errichteten Schranken fallen lassen und die Therapeuten beherzt auf seine Seele zugreifen lassen. Man muss sich in gewisser Weise seelisch nackt machen und das eigene (Fehl-)Verhalten auch eingestehen. All diese Kliniken, Ärzte, Dienste und Beratungen sind ja geschaffen worden, um die Nachteile der gesellschaftlich akzeptierten Suchtmittelbenutzung auszugleichen. Die Gesellschaft hängt also die freie Entfaltung des einzelnen höher als den Verlust der Kranken als Folge. Das ist eine politische Entscheidung und sicherlich keine einfache Abwägung. Als unmittelbar Betroffener kann ich aber sagen, dass der Preis der Freiheit im Krankheitsfall für den Einzelnen furchtbar hoch ist, und die Schicksale der Umwelt des Betroffenen ebenfalls hart.

Ich bin der Meinung, wir sollten in der Gesellschaft offener über die Thematik der Sucht reden. So befürworte ich seit langem die Legalisierung von Cannabis, weil es als Droge weicher ist als Alkohol und weil die Auswirkungen auf den Konsumierenden nicht so destruktiv sind wie beim Alkohol. Ich befürworte die Legalisierung, obwohl ich genau weiß, dass eine neue Welle von Süchtigen ein paar Jahre danach in die Suchtkliniken geschwemmt werden wird. Auch das ist eine politische Entscheidung, wobei man die Einzelschicksale der Abhängigen gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheit abwägen muss. Ich meine, Legalisierung ja, mit entsprechenden Angeboten für Abhängige und Prävention bei Jugendlichen. Das ist meines Erachtens der richtige Weg aus der Illegalität und sinnlosen Verfolgung von harmlosen Konsumenten.

Es ist vollbracht. Der letzte Zigarillo, in der Kälte, nach dem guten Mittagessen. Er schmeckte fürchterlich.

Die Mechanismen der Sucht sind immer dieselben, unabhängig vom Suchtmittel. Deshalb ist es auch ratsam, die Entwöhnungsbehandlung auf alle Süchte anzuwenden. Ich habe mir lange Zeit gelassen und dem Alkoholentzug den Vortritt, weil die gesundheitlichen Folgen für mich beim Alkohol zu eklatant viel schlimmer sind als beim Nikotin. Nichtsdestotrotz bedient das Nikotin dieselben Mechanismen. Und schließlich ist das Ziel hier ja suchtfrei zu werden, um später ein suchtfreies Leben führen zu können. Ich kann gar nicht beschreiben, wie befreiend es ist, nicht abhängig zu sein, nicht rauchen oder trinken zu müssen, denn genussvoll war in der Schlussphase weder das eine noch das andere.

Dass ich es kann und dass es mir gut tut, habe ich in der Vergangenheit ja schon einmal bewiesen, mit einer Abstinenz von fünfzehn Jahren. Ich hoffe inständig, dass ich in den nächsten fünfzehn Jahren mich mit anderen Dingen beschäftigen kann als mit meinen Süchten. Auf gut Deutsch gesagt: Ich habe die Schnauze gestrichen voll von Abhängigkeit, seelischen Erkrankungen, von Depression und Bipolarität. Ich habe es satt, an der Flasche zu hängen oder am Glimmstängel! Ich habe es satt, mich mit Suizidgedanken herumzuschlagen oder anderen sozialen Schwierigkeiten. Ich will leben – und nicht sterben. Dieses Denken – auch ein Therapieerfolg.

Nach realistischer Betrachtung habe ich noch zwanzig Jahre bis zur Rente (das Rentenalter wird ja in Zukunft beträchtlich steigen müssen bei der demographischen Entwicklung) und ich habe nicht vor, diese zwanzig Jahre im Sumpf der Sucht und Depression zu verbringen! Alle Warnschüsse vor den Bug habe ich bekommen und es ist allerhöchste Eisenbahn, dass ich diese Warnungen auch verstanden habe! Es gibt keinerlei Spielraum mehr mit der Sucht. Entweder ich gewinne oder die Sucht gewinnt – und in dem Fall bin ich tot und nur eine anonyme Nummer in der Suchtstatistik. Das soll so nicht sein.

Gute Tage, schlechte Tage. Die guten Tage nutzen, dieses Tagebuch oder diesen langen Brief schreiben und die schlechten Tage ertragen, das ist das Motto. Hoffen, dass für mich auch ein „normales“ Leben möglich wird. Ich bin nun den weiten Weg gegangen, um die Tiefen der menschlichen Existenz auszuloten. Es wird Zeit, auch wieder ein paar Höhen zu erleben! Wobei ich diese eher in einer Gelassenheit und in einer Meta-Ebene der Reflektion sehe als im Konkreten. Schön wäre es, wenn meine Gedanken gehört würden, aber selbst das Äußern schon verschafft mir Erleichterung.

Gehen wir doch Schritt für Schritt in diesen neuen Lebensabschnitt. Das Vergangene ist vergangen und kommt nie wieder. Das Jetzt ist temporär und bald Vergangenheit. Das Kommende wird zum Jetzt. Nur das können wir beeinflussen. Was kommt. Nicht mehr, was war, in Grenzen, was ist. Ich merke an mir selbst, dass ich immer noch zu sehr am Vergangenen hänge. Loslassen ist das Zauberwort! Das Vergangene war nicht schön, umso einfacher ist es, ein besseres Kommendes zu gestalten! Und schließlich bin ich nicht alleine auf dem Weg.

Wie Du merkst, Alte Seele, mache ich mir selbst Mut. Dabei ist alles so einfach. Trinke nicht und alles wird gut! Keine Krankheiten mehr, keine Klinikaufenthalte, kein Grübeln, keine Angstattacken, keine Panikstörung, keine Essstörungen, kein Durchfall, keine Blutungen, kein Husten, kein Galle spucken, keine Vergiftung meines eigenen Körpers mehr.

Es ist schwierig zu schildern, wie ich diesen Körper mit schädlichen Stoffen traktiert habe, und wie durch ein Wunder funktioniert alles noch, irgendwie. Selbstverständlich werde auch ich älter und merke die ersten Auswirkungen des Alters. Aber angesichts der jahrelangen Vergiftung bin ich noch erstaunlich gut in Schuss. Hör auf, dich permanent zu vergiften, dieser Satz löste mit die Behandlungskaskade aus. Ich wurde mir meines eigenen schädlichen Verhaltens bewusst lange bevor ich aufhören konnte. Dasselbe gilt für das Rauchen auch.

Mit dem Alkohol werde ich es in Zukunft halten wie mit den Nüssen. Ich bin allergisch dagegen! Wenn ich von den falschen Nüssen auch nur wenig esse, schwillt mein Hals zu und es kann zu lebensbedrohendem Schock kommen. Also sind einige Nüsse für mich strikt tabu. Dasselbe gilt für den Alkohol. Was für andere kein Problem, kann für mich lebensbedrohend sein. Die Strategie ist dieselbe wie bei den Nüssen auch: Strikte Vermeidung aus Notwendigkeit. Überlebensnotwendigkeit.

Wenn ich mir überlege, wie viel meiner Lebenszeit ich der Aufrechterhaltung meiner Sucht gewidmet habe, komme ich zu einem erschreckenden Ergebnis. In der Schlussphase war mein komplettes Dasein nur noch der Stoffgewinnung und dem Konsum gewidmet, alles andere habe ich vernachlässigt. Stunden, Tage, Monate, Jahre habe ich mehr der Sucht gewidmet als mir selbst oder den Menschen in meinem Umfeld. Die Sucht hat alles bestimmt: Mein tun, handeln, denken, fühlen. Die emotionale Ebene ist am meisten betroffen, denn die Suchtstoffe greifen unmittelbar dort im Hirn ein, wo sich Emotionen bilden. Und wenn hier schon in der Prädisposition ein Mangel, bzw. ein Ungleichgewicht an Botenstoffen existiert, greift die Sucht doppelt hart in die emotionale Befindlichkeit ein. Betrunken lacht es sich einfacher, aber es weint sich auch umso heftiger.

Die körperlichen Begleitsymptome der Vergiftung waren letztendlich der Auslöser für die Abstinenz. Der Körper wollte einfach die Zufuhr dieser Stoffe nicht mehr hinnehmen. Schwere Entzugserscheinungen waren die Folge, begleitet von anderen Ausfallsymptomen wie Lähmungen oder Blutungen. Der Alkoholentzug hätte mir fast das Leben gekostet und ich will niemals wieder so etwas erleben. Niemals! Es ist das Schlimmste, was einem passieren kann, dagegen ist eine Grippe oder eine Corona-Infektion ein Klacks. Umso dankbarer bin ich heute, dass ich sowohl den körperlichen Schmerz als, und das noch viel schwerwiegender, den geistigen Stress überlebt habe, was keinesfalls eine Selbstverständlichkeit ist. Ich habe schon jüngere, weniger schwere Fälle gehen sehen. „Das Leben will wirklich was von dir“, sagte meine Therapeutin, nachdem ich meine Nahtod-Erfahrungen geschildert hatte. „Es lässt dich nicht los und du bist noch nicht fertig hier“. Sie hat recht. Da gibt es noch eine Lektion zu lernen, wenn man so kurz vor dem Ableben dem Tod von der Schippe springt. Etwas Wichtiges. Was genau das ist, wird die Zukunft zeigen, aber es muss schon etwas Großes sein. Wozu sonst der ganze Aufwand?

Sonntag Nachmittag. Ich leide unter Nikotin-Entzug, denke über die „Heimfahrt“ nach und hoffe, dass das alles so bald wie möglich vorüber ist.

Montag. Ich bin nervös, zittere und kann nicht schlafen. Ich versuche zu meditieren. Mein Bauch grummelt und ich habe den Eindruck, nichts auf die Reihe zu bekommen, obwohl ich alles gemacht habe wie ich sollte. Mal wieder duschen.

Fahrkarte besorgt. Halbe Weltreise nach Bad Homburg, der Automat hier war defekt. Typisch Deutschland! Eine halbe Stunde habe ich Zeit bis zum Mittagessen. So langsam sind meine Tage hier gezählt und ich freue mich, wieder ins „Ländle“ zu kommen. Mal sehen, wie das alles jetzt weiter geht. Ich fahre am 13.12. Richtung Heimat nach Fellbach bei Stuttgart.

Ich bekomme gerade eine Panikattacke. Ich glaube, ich sollte einen Arzt sehen. Ein metallener Geschmack macht sich in meinem Mund breit und ich zittere am ganzen Körper. Die Krankheit hat mich voll im Griff. Meine Kehle schnürt es zu und in meiner Brust spüre ich einen brennenden Schmerz. Nach Hause nach dem Bahnhof – und hinlegen, bis die Attacke vorüber ist. Damit muss ich jetzt leben lernen. Dass eben nicht alles so einfach geht wie früher.

Mittwoch. Gut geschlafen, doch die Panik geht weiter. Ruhepuls ist 120 und Blutdruck 150/94 trotz Medikamenten. Seltsam. Mein Herz schlägt unregelmäßig und laut. Aber ich muss mir immerzu die gleichen Gedanken durch den Kopf jagen: Markus, was tust du hier eigentlich? Wozu ist das alles gut? Nun, ich bin dabei, den Alkoholismus zu besiegen. Das erfordert höchste Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Markus, du bist hier wegen einer ganzen Palette an psychischen Störungen (ich habe erstmals die Liste an Diagnosen gestern gesehen), die es zu bearbeiten gilt. Der Alkoholismus ist dabei zwar nicht ursächlich, doch neben den Panikattacken bei weite, die Störung, die am meisten im Alltag behindert. Und suchtfrei zu leben, ermöglicht erst die Therapie der anderen Störungen, die da sind. Angststörung, Bipolare affektive Störung etc. Auch heute, fast ein halbes Jahr nach der letzten Trunkenheitsphase bemerke ich das Fehlen des Alkohols als dämpfendes Mittel. Emotionen kommen hoch, gerade auch in der Gruppentherapie, Emotionen und Gefühle, diemit dem Konsum zu tun hatten. Wir spielen absichtlich gedanklich unangenehme, belastende Situationen durch, um die Antwort des Körpers und der Seele zu provozieren und an dieser automatisierten Antwort dann psychologische Methoden anzuwenden, um den Rückfall und das tödliche Weiterführen der alten Trinkgewohnheiten zu verhindern. Ich muss mir selbst immer und immer wieder klar machen: Ein Rückfall ist keine Option, denn ich würde daran schnell sterben. Also ist die Abstinenz bei mir eine Frage von Leben und Tod. Ich habe keine Optionen mehr neben dem eingeschlagenen Weg, egal wie steinig und voller Hindernisse körperlicher wie geistiger wie seelischer Art er auch sein mag. Ich bin todeskrank! Und meine ganze Existenz hängt daran, die erste Dose Bier eben nicht zu kaufen oder gar zu öffnen und zu trinken. Das wäre mein Untergang.

Dessen bin ich mir bewusst, wobei das Nüchternsein beileibe nicht einfach ist. Jemand, der nicht süchtig ist, wird das Problem erst gar nicht verstehen. Was soll denn daran bitte schwierig sein, kein Suchtmittel zu sich zu nehmen? So sind wir doch geboren. Die wenigsten von uns wird abhängig geboren. Wir erwerben die Sucht im Laufe unserer Sozialisation – und beim Alkohol dauert es meist fünfzehn Jahre oder länger, bis die Sucht so weit fortgeschritten ist, dass sie das ganze Leben bestimmt. Bei mir in der Schlussphase war es tatsächlich so. Und jetzt ein halbes Jahr Kliniken und Abstinenz einfach wegwerfen wäre das Schlimmste, was mir passieren könnte, schlimmer noch als ein schneller Tod durch z.B. einen Herzinfarkt.

Der Alkohol lässt einen Süchtigen, wie ich es bin, elendig und langsam verrecken. Es ist eine schreckliche Art zu sterben, denn man stirbt ja nicht am Alkohol an sich (es sei denn, man holt sich eine Alkoholvergiftung), sondern man stirbt an den Folgeschäden an Leber, Herz, Hirn oder sonstigen Organen. Der Alkohol vergiftet eben den ganzen Körper, jede einzelne Zelle ist betroffen, ohne Ausnahme. Insofern ist es ein Wunder, dass ich noch einigermaßen funktioniere, der 15jährigen Abstinenz mit meiner Tochter sei Dank, ohne diese Phase wäre ich schon längst unter der Erde. Auch jetzt weiß ich nicht, wie lange der Kampf ums Überleben gut geht, denn mein Körper, und vor allem mein Hirn zeigen erste Folgeschäden. Noch sind sie gering. Aber der Kampf gegen die Sucht ist ein immer währender, nie endender. Jede Sekunde des Nüchternseins genieße isch, auch wenn die äußeren Umstände noch alles andere als rosig sind. Jedes Zittern und jede Angst verstehe ich als Abwehrmechanismus des Körpers, der sich gegen die Nüchternheit richtet. Das falsche Versprechen des Alkohols, Dinge zu lösen, den Druck zu mindern oder Dinge im Leben einfacher erträglich zu machen, ist permanent präsent. Aber es ist und bleibt eben ein falsches versprechen, denn der Alkohol löst alles andere, Bindungen, Familien, Karrieren – aber er löst eines eben nicht: Meine Traumata und meine Probleme.

Kunsttherapie. Eine seltsame Veranstaltung. Man bekommt ein Thema vorgesetzt und hat eine halbe Stunde Zeit, ein Bild davon zu malen und am Ende werden alle Bilder in der Runde diskutiert. Meine Malkünste erreichen vielleicht das Niveau eines Drittklässlers! Ein wenig peinlich ist das dann schon, wenn man seine Kritzeleien den anderen in der Gruppe vorstellen muss. Die ersten Male war es aber schlimmer, mittlerweile habe ich eingesehen, dass es auch andere gibt, die nicht so gut mit Stift und Kreide sind. Es ist ja Kunst-Therapie. Und wenigstens für ein paar Momente kann ich das Gedankenkarussell abstellen. Es nimmt Druck von der Seele.

Ich habe heute etwas verstanden. Nämlich, dass ein großer Teil meiner seelischen Schmerzen immer noch vom Alkohol kommt. Da haben sich über Jahrzehnte Mechanismen und emotionale Systeme in mir etabliert, die sich gegenseitig bedingen. Der Seelenschmerz hat sich verselbständigt und ruft die Sucht als Linderung herbei und sei es nur für ein paar Stunden. Die Sucht kennt kein „davor“ oder „danach“ mehr. Die Sucht ist immer da und sie äußert sich in körperlichen wie seelischen Schmerzen. Vieles von dem ist, was die Suchtforscher „Craving“ nennen, das unstillbare Verlangen nach dem Suchtmittel, um das Sein an sich erträglich zu machen. Selbst jetzt nach einem halben Jahr fast ohne Alkohol spüre ich das Craving deutlich. Der Körper bereitet sich selbst Schmerzen, in der Hoffnung, Abhilfe durch den Alkoholkonsum zu erlangen. Mein Hirn „verarscht“ (man verzeihe mir den Ausdruck) sich selbst, um mich dazu zu bringen, wieder zum Stoff zu greifen. Ein Teufelskreis, dessen ich mir jetzt aber bewusst geworden bin. Erst nach Monaten der Entgiftung und Entwöhnungsbehandlung! Da sieht man mal wieder am praktischen Beispiel, wie tief ins System die Sucht verankert ist. Selbst in der Abstinenz führt sie Regie in diesem Drama.

Einen Apfel zum Früstück – auch das hat sich hier so eingebürgert. Ich verzichte auf die leeren Kalorien des Marmeladebrötchens am Morgen – mein Geschmackssinn ist eh getrübt, Long-Time-Corona sei dank. Außerdem ist es gesünder. Aber auf meinen Kaffee möchte ich nicht verzichten. Also ab zum Supermarkt welchen holen. Einige Minuten draußen in der „normalen Welt“. Ich spüre die Krankheit deutlich – und die Medikamente, die mir einen kurzen Kick verschaffen. Ich habe es gelernt, auch das zu genießen. Am Wochenende heißt es nun Sachen packen und hinaus in die Welt. Es wartet noch etwas da draußen. Es ist noch nicht zu Ende, obwohl es sich manchmal echt so anfühlt. Aber irgendwie wird es weiter gehen. Ich hoffe, dass ich meine Therapie gut gemacht habe und habe tiefe Einsichten in mein Verhalten und in meine Psyche gewonnen und bin mir jetzt meiner Krankheiten besser bewußt. Über die Hälfte aller Patienten hier schafft es, ein Jahr nach der Therapie nüchtern zu bleiben. Ich will auf jeden Fall zu dieser Hälfte gehören.

Was habe ich noch, um es mit ins neue Leben zu nehmen? Nicht viel. Aber ich bin am leben! Irgendwie muss ich das immer vor Augen halten, denn der Maßstab in dieser Genesung ist der Tod. Ich jammere auf hohem Niveau, schließlich könnte ich Krebs haben oder eine andere finale Erkrankung. Das ist bei mir nicht der Fall, meine Erkrankung tötet langsam. Aber sie tötet letztendlich doch. Gestern erst habe ich wieder an Selbstmord als Ausweg gedacht, habe es aber geschafft, die Gedanken sehr schnell weg zu drücken. Vorher gehe ich lieber noch einmal den Weg über die Psychiatrie, sollte ich es draußen nicht schaffen. Ich muss ganz gelassen die Dinge so hinnehmen, wie sie nun mal sind. Und dazu gehört es sich einzugestehen, dass ich so schnell nicht wieder zu hundert Prozent gesund werde.

Seltsame Geschichte. Ich hatte heute Morgen so etwas wie einen Anfall. Noch vor einer Stude lag ich da mit Atemnot und Schmerzen in der Brust, mir war schwindelig und schlecht. Ich war kurz davor, zur medizinischen Station zu gehen. Jetzt nach dem Essen, zu welchem ich mich zwingen musste, sind die Beschwerden so plötzlich weg, wie sie gekommen waren. Ich muss das beobachten, denn zum Schwindel gesinnte sich ein Gefühl der Unwirklichkeit, so dass die Realität wie in einem Film an mir vorbei lief. Ich ging quasi neben mir selbst. Einerseits kenne ich die Erfahrung von den Panikattacken, allerdings fühlte es sich diesmal doch anders an. Ich werde jetzt mal ruhen und schaue, ob es mit heute Nachmittag besser geht. Auf jeden Fall nehme ich die Sache ernst, mein Körper teilt mir etwas mit. Hoffentlich bekomme ich eine solche Attacke nicht beim Reisen.

Ich denke nach über meine alte Wohnung. Ich kann unmöglich zurück in mein altes Setting. In dieser Wohnung und sozialen Umgebung hätte ich mich fast umgebracht! Es wäre töricht anzunehmen, dass eine Rückkehr ins Alte irgendwie anders enden würde. Ich würde noch mehr krank als ich es jetzt schon bin – und entweder als Pflegefall mit zig Medikamenten oder aber im Selbstmord aufgrund der Depression enden. Es hilft nichts, die schönste Wohnung zu haben, wenn man darin so krank wird, dass man sich weg machen will und das nicht nur einmal, sondern mehrfach. Zu schwer wiegen die Traumata bezüglich meines Geburtshauses, zu eingefahren sind die sozialen Beziehungen, aus denen ich es nicht mal als Erwachsener geschafft habe, mich zu lösen. Ich war nächstes Jahr dreißig Jahre lang in der selben Wohnung. Zwei Mal ist sie umgebaut worden, einmal von mir, ganz am Anfang, einmal von meinem Vater als ich in der Entgiftung war. Das ist drei Jahre her und schon damals hätte ich die Message verstehen sollen: Raus aus der Umgebung. Raus aus dem Job, der mich krank gemacht hat, raus aus der Wohnung mit all den Erinnerungen an gute und schlechte Tage, weg vom Elternhaus und den damit verbundenen Traumata, endlich. Doch ich habe die Warnung ignoriert und die Krankheit weg geleugnet, nur um ein paar Jahre später noch viel schlechter dazustehen, so dass jetzt die Entscheidung außerhalb meiner Macht liegt. Und dennoch sehe ich auch eine Chance in der Krise, ohne die Krise hätte ich den Absprung in ein echt selbständiges Leben wohl nicht mehr geschafft und wäre als weitere Urne im Familiengrab neben der Andreaskirche in Stuttgart Uhlbach gelandet.

Dass es nicht so kommt, ist nicht ausgeschlossen, darum hämmert ein weiterer Satz in meinem Kopf: „Markus, nutze die Zeit, die du noch hast“ und deshalb schreibe ich, denn die Zeit ist endlich.

Ich will schließlich ein neues, nüchternes Leben beginnen und nicht das alte weiterführen. Und das gelingt nur, wenn ich das Wohnumfeld genauso ändere, wie mein Verhalten auch. Wir haben ja gottseidank in diesem Land ein soziales Netz, welches einen in der hoffentlich temporären Krise auffängt. Ich kann nicht mehr dahin zurück. Es gibt nur den einen Weg, den ich gehen muss. Es ist der Weg Gottes, der mich durch eine harte Prüfung schickt. Ich erinnere mich an das Buch Hiob, in dem der Glaube bis zur Verleugnung getestet wird. Doch am Ende triumphiert Hiob und Gott schenkt ihm alles mehrfach wieder. Daran werde ich mir ein Vorbild nehmen. Hauptsache ich werde wieder gesund und bekomme diese verdammten Anfälle und Suizidgedanken weg. Ich elaboriere hier an Kleinigkeiten und sehe das große Ganze nicht. Mich beschäftigen kleine Alltagssorgen dermaßen, dass sie mir buchstäblich die Kehle zuschnüren und ich nicht frei atmen kann. So ist der Schritt raus aus dem Alten auch ein Schritt in die Freiheit, die ich im alten Zuhause niemals richtig leben konnte, da dort die Familienbande immer im Weg standen und stehen werden und ich so niemals zur richtigen Entfaltung gekommen bin – auch weil ich es den Eltern ja recht machen wollte. Obwohl die sich bis zu guter Letzt ja nicht wirklich mit meiner Befindlichkeit auseinandergesetzt haben. Erst als es schon zu spät war, hat man bemerkt, dass etwas gründlich schief läuft beim Markus. Und jetzt ist er so krank, dass er gehen muss, unter Umständen sogar in eine geschlossene Einrichtung wegen Suizidgefahr. Ich hoffe, dass es so weit nicht kommt, aber die Gedanken daran sind da.

Und plötzlich fällt es mir wie die Schuppen vor den Augen. Es geht hier nicht um eine Therapie am Beginn einer Erkrankung. Es geht um die Therapie am Ende! Es geht nicht um das letzte halbe Jahr. Es geht um die letzten fast 54 Jahre – mein ganzes Leben!

(Posting Teil 4 8.12.22)

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