In Therapie, Teil 3

Langeweile ist ein großes Thema in meinem Leben. Mir war langweilig in der Schule. Ich war immer der Klassenbeste und erschien in späteren Schuljahren nur noch zu den Klassenarbeiten. Mir war oft langweilig bei der Arbeit – die Probleme meiner Kolleginnen schienen viel zu banal und belanglos als das sie mich wirklich interessiert hätten. Insgesamt ist es so, dass ich schon immer etwas „anders“ getickt habe als meine Mitmenschen. Leider ist der Versuch, mich denen anzupassen sich „auf Normalniveau“ herunter zu bringen, unter anderem mit Alkohol gründlich misslungen. Noch nie hatte ich die echte Chance, meine Talente vollkommen auszuleben. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät dafür. Es werden Chancen kommen. Und ich werde sie nutzen. Vielleicht liegt ja in der Krise tatsächlich die Chance, die unterdrückten Dinge zu verwirklichen, nach denen ich so lange vergeblich gestrebt habe. Anerkennung zu erfahren für das, was man tut. Eine Persönlichkeit entwickeln mit einem Charakter, lieben und geliebt zu werden, auf den ganz unterschiedlichen Liebes-Ebenen, die wir Menschen haben (siehe das Gedicht: Regenbogen der Liebe)

Vieles, was im kranken Zustand nicht möglich war, erscheint jetzt wieder in machbare Ebenen zu gelangen, wie zum Beispiel eine Beziehung führen. Mit der Krankheit im Nacken war dies gänzlich unmöglich! Das zeigt meine letzte langjährige Beziehung deutlich, in der zwei Alfa-Tiere sich gegenseitig gebattled haben, tatkräftig unterstützt durch Alkohol. Eine wunderschöne teuflische Beziehung, geprägt von viel Liebe aber auch Aggression. Und das möchte ich nicht mehr, deshalb bin ich auch absichtlich bis heute Single geblieben.

Ich verliebe mich schnell – und liebe das Gefühl des Verliebtseins, falle aber nicht mehr so einfach auf die Gefühlswallungen herein. Nein, eine Beziehung muss sich auf Gesundheit begründen, nicht auf Krankheit. Und das geht eben nur, wenn ich gesund bin und bleibe.

Wenn ich so zurück schaue: Was alles habe ich getan in der Hochphase? Meine letzte Beziehung, über den Atlantik und über Rassengrenzen hinweg – war das auch Folge der Krankheit? Die Beziehung war geprägt von zwei Alfa-Tieren, beide hoch begabt und hoch intelligent, beide aber genauso manisch-depressiv, so dass die Beziehung hätte in einer ganz großen Katastrophe enden können. War all das der Krankheit geschuldet? Mein erfolgreicher Aufenthalt in Afrika war sicherlich schon von dem Absteigenden Ast der Erkrankung geprägt – eine Art Flucht vor dem Unausweichlichen?

Plötzlich kommt die Erkenntnis über mich, dass all diese Aktionen Resultat der Krankheit waren. Jahre sind ins Land gezogen, und angeblich hat niemand etwas bemerkt? Ich jedenfalls habe mein Leben so noch nie betrachtet – und die neue Sicht erklärt auch einiges. Wenn nun aber das Tun und der Tatendrang zum Besonderen der Krankheit geschuldet war, wie dann damit in Gesundheit umgehen? Soll und muss ich meine Ziele denn ändern beziehungsweise anpassen? Ich denke schon. Keine Sonderaktionen mehr, lieber Markus, das hältst du nicht mehr aus. Es kostet materiell wie spirituell zu viel! Versuche mal, ein „normales“ Leben zu leben und schlage nicht aus, weder nach oben noch nach unten. Ein hehrer Vorsatz, den es nun auch einzuhalten gilt.

Diese Erkenntnis ist neu für mich und trifft mich aus heiterem Himmel. Aber natürlich doch. Ich war jahrelang wenn nicht jahrzehntelang getriebener meiner eigenen Krankheit und habe selbst nichts davon bemerkt. Wow. Das sitzt erstmal tief. Denn im Umkehrschluss heißt das ja, dass ich seit meiner Kindheit nie richtig gesund war! Erst jetzt, im zarten Alter von 53 Jahren erkenne ich das Muster der Krankheit, erkenne ich das Muster des alten Lebens. Jetzt erst verstehe ich, wie eins zum anderen überhaupt kommen konnte und warum ich schließlich hier gelandet bin. Der nächste Therapieerfolg!

Wenn wir jetzt spekulieren wollten, könnte man sich die Frage stellen, hätte man mit der richtigen Diagnose zur richtigen Zeit einiges an Leid verhindern können? Sicherlich ja. Gottseidank ist die Wissenschaft heute weiter als noch vor dreißig Jahren, als man die Anzeichen schon sah und ein mutiger Arzt die Diagnose und Behandlung auch hätte einleiten können. Den hatte ich leider nicht.

Umso erstaunlicher geht es jetzt ganz schnell voran und niemand zweifelt mehr an der Diagnose. Mit heutigem Wissen würde man einen Fall wie mich schon von vornherein anders diagnostizieren und behandeln. Allen, mir inklusive hätte das viel Leid erspart. Aber so ist nun mal unsere Gesellschaft: Im Nachhinein ist man immer klüger.

Noch ist es gottseidank nicht zu spät, um die Fehler der Vergangenheit wieder gut zu machen. Meinerseits nicht und seitens der Gesellschaft auch nicht. Aber wir können allesamt Lehren für folgende Generationen ziehen – das man psychische Erkrankungen nicht als „Spinnerei“ oder „jugendlichen Übereifer“ abtut, sondern qualifizierte Diagnosen früh genug stellt. Mir jedenfalls hätte das spätestens nach dem Koma und der ersten Nahtod-Erfahrung sehr viel geholfen. Das ist jetzt immerhin 23 Jahre her. Ich mag mir kaum vorstellen, wie viele junge Menschen undiagnostiziert sich durchs Leben kämpfen müssen, obwohl Heilung verfügbar wäre – nur das System reagiert eben erst viel zu spät, quasi wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Die Reparaturschäden kosten ein Vielfaches mehr als Prävention es würde. Mir ist es ein Rätsel, warum man so lange mit Behandlung warten muss, bis es (fast) zu spät ist. Ich stelle mir ein Gesundheitssystem vor, welches in Schulen und Universitäten frühzeitig auf Auffälligkeiten in beide Richtungen reagiert. Denn weder ganz oben noch ganz unten lebt es sich auf Dauer Gesund. Als jemand, der beides erlebt hat, halte ich mich durchaus für qualifiziert, hier eine Meinung abgeben zu können.

Sonntag Morgen. Eigentlich Zeit für einen Gottesdienst, doch aber war ich bislang noch nicht so weit draußen vom Klinikgelände entfernt, dass ich eine Kirche hätte aufsuchen können. So halte ich hier meinen kleinen Moment der Einsicht und der Widmung des Spirituellen, indem ich das Schreiben an diesem Brief fortsetze. Ich höre zwar die Glocken, die zum Gottesdienst rufen, aber mich quält eine lähmende Angst, dort auch hinzugehen. Es ist schwierig zu erklären, warum das so ist, aber bislang habe ich es nur zum Carre geschafft, dem lokalen Konsum-Tempel. Ich glaube, da bin ich nicht der einzige. Die Kirche hat es sich auch selbst zuzuschreiben, das Seelenheil suchende sich nicht mehr in ihren Schoß begeben, sondern sich eher dem schnöden Mammon zugehörig fühlen. Das ist schade, den die Botschaft, die sie verkünden, ist ja eine gute. Du als Mensch, egal wie unzureichend du auch sein magst, wirst geliebt von einer höheren Kraft. Ja, was will man mehr? Doch all die Skandale um unsere Kirchenführung haben die Strahlkraft der guten Botschaft verwässert und übertüncht. Ich will ja gerne in die Kirche gehen und zur Kirche gehören, aber eben nicht zu dieser. Da sind eine Menge Reformen überfällig, sowohl bei den Katholiken als auch bei uns Protestanten. Die Gottesdienste sind in der gegenwärtigen Situation eher langweilig und für ältere Menschen attraktiv. Das müsste so nicht sein, was ich ja in Afrika erlebt habe, wo die Kirchen voller Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind. Dort ist Kirche Marktplatz, Schule und Gemeindezentrum in einem, oftmals noch gepaart mit der schwierigen Gesundheitsversorgung. Kirche gibt dort den Menschen wenigstens eine warme Mahlzeit nach fünf Stunden Zeremonie. Ich bin in Afrika gerne zur Kirche gegangen, weil dort gesungen und getanzt wird, der Gottesdienst sich an der frohen Botschaft und an der Entwicklung der Gemeinde orientiert. Hierzulande hingegen verkommt die Kirche immer mehr zu einer Veranstaltung einiger weniger gläubiger Christen, die die Zeremonien unter sich ausmachen. Das gemeine Volk bleibt freiwillig außen vor.

Dies hat natürlich mit der Verknüpfung von Kirche und Staat zu tun. Immer noch haben wir es nicht geschafft, Kirche und Staat sauber zu trennen, was zu einer Kirchenmüdigkeit führt, genauso wie viele Bürgerinnen und Bürger des schröpfenden Staates überdrüssig geworden sind. Das müsste aber so nicht sein, wenn man die Liturgie auf das Alltagsleben der Menschen anpasste – und nicht vergeblich das Umgekehrte erwartete. Schon jetzt zeigen sich Risse in der Seelsorge und die beiden großen staatsnahen Kirchen leiden unter Personalmangel. Vor lauter Verwaltung haben die Kirchen häufig ihren Ur-Auftrag, nämlich das Verbreiten des Evangeliums vernachlässigt und nun laufen ihnen in Scharen die Schäfchen davon.

Vielleicht statte ich der Kirche hier nun doch einen Besuch ab. Bis später, ich gehe beten.

Gesagt – getan. Ich habe es tatsächlich geschafft, meinen ersten Gottesdienst hier zu besuchen. Eigentlich wollte ich nur die Kirche besichtigen – eine Hugenottenkirche. Vieles hier ist von den französischen evangelischen Auswanderern geprägt, sogar die Altar-Inschrift ist auf Französisch, dessen ich leider nicht mächtig bin. Eine Pastorin hielt eine moderne Messe für die handvoll Gläubigen im Raum – zu meiner Überraschung waren durchaus auch ein paar junge Gesichter darunter. Die Predigt stand unter dem Motto „Suchet den Frieden“ und kreiste, wie so oft in diesen Tagen um das Thema Krieg, Flucht und Vertreibung. Das muss man den kirchlichen Organisationen lassen – sie engagieren sich vorbildlich in Sachen Flüchtlinge, erst aus dem Nahen Osten und jetzt aus der Ukraine. Die Kirche hier unterhält Kinderdörfer im Sommer für Kinder aus benachteiligten Familien im Strahlungsgebiet rund um Tschernobyl.

Es fühlte sich gut an, wieder in einer Kirche zu sein und zu beten. Das Gefühl der Gemeinde kam auf, die Erkenntnis, dass obwohl Fremder hier, ich niemals alleine zu sein brauche. Die Gemeinde ist auch hier ansprechbar, sollte die Seelen-Not übermächtig werden (was sie im Augenblick gottseidank nicht ist). Auch die Aussicht, meinen bescheidenen Beitrag zur Gesellschaft in einem kirchlichen Setting zu vollbringen ist alles andere als abwegig. Gute IT-ler braucht es schließlich überall und die protestantische Kirche ist für Reformen ja durchaus zu haben.

Es tat also gut, die Seele mal eine Stunde baumeln zu lassen, ab-lassen von dem täglichen Kampf gegen die Krankheiten und nur gespannt den Bach-Kantaten auf der Kirchenorgel zuzuhören. Ich liebe Orgel- und Klaviermusik, ganz speziell am Sonntagmorgen. Ein Tick von mir, vielleicht, aber nach all dem Techno und House Gedröhns tut etwas Besinnliches auch gut. Schließlich nähern wir und demnächst der Adventszeit und die nebligen Novembertage bieten sich zur Introspektion geradezu an. Obwohl heute die Sonne vom strahlenden Himmel lacht. Leider hatte die Kirche keine farbigen Gläser in den Fenstern, so dass ich die Brechung des weißen Lichts, welche man in den großen Kathedralen bewundern kann, nicht sah. Rein und schlicht, konzentriert auf das Wesentliche sollten sie sein, die Hugenotten-Kirchen. Das Weiß der Inneneinrichtung sollte das helle Licht Gottes wiedergeben, ohne den unnötigen Goldschmuck der barocken Katholiken. Und das tat es auch, die Wirkung des Gebäudes, nämlich Konzentration statt Prunk hat ihr Ziel zumindest bei mir erreicht.

Wie üblich habe ich nicht mitgesungen, denn in eigener Einschätzung kann ich nicht singen (obwohl ich online für jemanden auch schon vorsingen musste?). Aber ich kann mich konzentrieren und mitbeten. Selbstverständlich habe ich für mich gebetet, meine vertrackte Lebenssituation. Und die Botschaft, die ich meine bekommen zu haben lautet: Alles ist gut. Ich bin auf dem richtigen Weg. Selbstverständlich ist das Kirchliche Leben ein ganzes Stück weit weg von der Erfahrung eines Nachtleben-Menschen. Doch der Rückzug ins Geistliche kann genauso gut in einem Techno-Klub geschehen, wenn ich mich nüchtern in Trance tanze. Die Location ist eine andere, das Publikum auch, doch die Tatsache, dass man sich dem Unbewussten mit Hilfe der Musik nähert ist dennoch eine ähnliche. Hier der Techno-Bass, dort die Kirchenorgel. Beides machtvolle Töne, größer als der Einzelne. Ob nun tief im Gebet in der Kirche versunken oder tranceartig im Nachtklub tanzend – Ziel ist immer und immer wieder die Öffnung der Seele ins Metaphysische hinein. Irgendwann habe ich mal gesagt: „Techno is my religion and the night club is my church“. Da steckt schon ein ganzes Stück Wahrheit drin.

So wie ich mich mit Hilfe der Musik weg denken kann, so kann ich es auch im Gebet. Nicht umsonst trage ich ein Kreuz am Hals, als Zeichen der spirituellen Verbindung mit der höheren Kraft. Beten hilft! Dafür gibt es sogar wissenschaftliche Belege (siehe Rupert Sheldrakes Forschung und die neuesten Erkenntnisse in Sachen Hirnaktivität und Quantenmechanik). Die Meditation und Vergeistlichung macht etwas mit uns, sie verändert plastisch unsere Hirn-Struktur und mit entsprechender Übung liefert sie uns ein mächtiges Tool, mit dem man gegen Ängste und Süchte arbeiten kann. Häufig betenden sieht man eine Heiligkeit an, eine große Gnade.

Passend dazu heißt das Krankenhaus, in dem ich in der Entgiftung war „Zentrum für seelische Gesundheit“. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in unserer Gesellschaft zu wenig auf die Seele achten, also das Wohl zwischen Körper und Geist. Oft ist unser Alltagsleben durchbrochen von reinem Kommerz, wir produzieren und konsumieren Dinge, die unserem Seelenheil nicht gut tun. Eine gewisse Rückbesinnung auf spirituelle Dinge täte uns gut, sich kümmern um den Nächsten heißt ja auch sich kümmern um sich selbst. In unserer Gesellschaft kommt dieser Gedanke zu kurz – und die Kliniken füllen sich mit Patienten die unter Burn-out oder Depressionen leiden. Doch keine Klinik der Welt kann dem Menschen bieten, was die Mitmenschen bieten können, nämlich Zuwendung und Liebe. Der professionelle Seelen-Reparaturbetrieb, in dem ich stecke kann zwar Therapien vermitteln und Theorien aufzeigen, letztendlich aber liegt die Ausgestaltung der Alltagswelt jedem Einzelnen. Da kann auch die bestgemeinte Therapie nicht helfen.

Heute mag ich mich nicht besonders. Ich habe Mittagsschlaf gehalten. Und fühle mich nutzlos. Anstatt wichtige Dinge zu tun, sitze ich hier im stillen Kämmerlein (im wahrsten Sinne des Wortes) und tippe diese Zeilen. Sie mögen eventuell einen Wert entfalten, schließlich werden sie veröffentlicht. Und wenn ich mit meinem Schreiben auch nur einer Seele auf ihrem Weg helfen kann, ist schon viel gewonnen.

Bitte verstehe mich nicht falsch, Alte Seele. Mit der Besinnung auf das seelische Wohlbefinden meine ich keinesfalls einen Rückfall in einen Kirchenstaat. Nein, ich meine damit eine Anpassung der modernen Lebenswelt an die Bedürfnisse der Menschen so wie sie sind. Wir haben, und das vor allem im Arbeitsleben, die Spirale der Produktivität überdreht. Das System tickt schneller als die Menschen, die es am Laufen halten, dadurch entsteht Stress und Unbehagen. Das wiederum nagt an unserer Psyche und es kommt zu den oben genannten Folge-Erkrankungen, die das System wiederum mit Institutionen und Heilanstalten zu bessern versucht. Wäre es denn nicht besser, die psychischen Krankheiten schon im Vorfeld zu verhindern, indem man in das System an sich Pufferzonen für die Seele einbaut? Sicherlich. Wir sehen ja sporadische Ansätze wie Sabbaticals oder Teilzeitregelungen. Das ist ein guter Anfang, aber es ist erst der Anfang in eine humanere Arbeitswelt, die auch den älter werdenden Bevölkerungen Rechnung trägt. Schließlich entsteht eine Depression oder eine Abhängigkeit ja nicht über Nacht, sondern das sind Prozesse, die Jahre zu ihrem Entstehen benötigen und von bleibender Natur sind. Ich sehe nicht, dass unsere Gesellschaft das Notwendige tut, um der neuen Humanität sichere Rahmenbedingungen herzustellen. Aber das ist, was unsere Gesellschaften im entwickelnden Westen benötigen.

Denn Maschinen und Computer kennen keinen Humanismus, genauso wenig wie die kollektiv-autoritären Staaten, die in harter Konkurrenz uns wirtschaftlich wie militärisch zu schaffen machen. Auch international ist keine neue UN in Sicht und die Mechanismen des Kalten Krieges finden ihre Anwendung. Dabei betreiben wir Raubbau an unseren Ressourcen, und ich meine hiermit nicht nur die natürlichen, sondern auch die seelischen Ressourcen weiter Teilen unserer Bevölkerungen. Es klafft immer noch ein riesiges Wohlstandgefälle und die sich entwickelnden Länder setzen, zu recht, auf die Lösungen des 20. Jahrhunderts in dem sie bis heute noch nicht angekommen sind. Wir hingegen hätten die Möglichkeit, einen neuen Humanismus zu entwickeln, sehen uns aber durch sinnlosen Krieg und Vertreibung genauso den alten Strukturen des 20. Jahrhunderts gegenüber gestellt. Ein Weg daraus müsste sein, dass sich die entwickelten Länder zu einer anderen Weltordnung durchringen könnten, einer Ordnung, die das individuelle seelische, geistige und körperliche Wohlergehen zum Maß der Dinge macht und nicht nur eine immer weiter steigende Produktivität oder weiter steigende Lebenserwartungen. Lieber ein etwas kürzeres gut gelebtes Leben als ein maschinell erzeugtes Dahinsiechen an „Gesundheits“-Maschinen aller Art. Lieber etwas weniger konsumieren und produzieren, dafür aber mit mehr Qualität statt Menge.

Diese gesellschaftlichen Prozesse sind ja seit einiger Zeit schon im Gange. Der Aufstieg der Grünen Partei zur Volkspartei spricht Bände. Nur sind deren hehre Ziele auch schon, zum Teil zumindest, vom elitären Machtapparat geschliffen worden. In der Substanz zeigt sich Grünes Regierungshandeln kaum unterschiedlich von dem der Parteien zuvor auch. Der herbei gesehnte Systemwechsel ist ausgeblieben, weil sich sowohl Partei als auch System sich adaptiert haben. So verhallen die Gedanken eines neuen Humanismus, der sich vor allem in den linksliberalen Kreisen (zu denen ich mich zähle, wenn auch zur Zeit von keiner Partei repräsentiert) bildet, bedeutungslos, weil nicht im Regierungshandeln vorkommend.

Der von Piketty und anderen vorgeschlagene „Kapitalismus des 21. Jahrhunderts“ ist spätestens mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges und die darauf folgende Inflation wieder in den Schubladen und auf den Festplatten der progressiv-liberalen Denker verschwunden. Das System bedient sich der alten Vorgehensweisen und Denkmuster, die im 20. Jahrhundert die Menschheit in die bis dato größte Katastrophe geschickt haben. Es ist fraglich, ob man mit den Denkmustern des 20. Jahrhunderts die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen kann. Jetzt jedenfalls ist das neue Denken gnadenlos ins Hintertreffen geraten angesichts der brachialen Drohung mit roher Gewalt. Wir alle können nur hoffen, dass das nicht die Richtschnur der Politik der nächsten Jahrzehnte sein wird.

Warum schreibe ich Dir diese Zeilen, liebe Alte Seele? Weil es mich beschäftigt. Weil ich es kann. Weil ich es darf. Weil wir gottseidank in einem Land leben, in dem zumindest in der Theorie Meinungsfreiheit herrscht. Weil wir das System von innen ändern wollen, ohne die Brüche einer Revolution. Weil Demokratie und Freiheit des Denkens auch etwas mit dem Seelenheil von Völkern zu tun hat. Weil wir es unseren Kindern schuldig sind, bessere Strukturen als die jetzigen zu hinterlassen. Es ist doch ein schöner Gedanke, einen neuen Humanismus aufleben zu lassen, von mir aus auch etwas sozialromantisch verklärt. Und wenn die Denker nicht mehr denken, wer dann?

Du merkst schon, liebe Alte Seele, das Politische ist aus mir nicht weg zu bekommen. Auch meine nächste Tätigkeit wird ein wenig das berücksichtigen müssen. Zumindest im privaten Gespräch. Ich sehne mich nach akademischer, teilweise auch hitziger Debatte um das bessere Sein. Wahrscheinlich muss ich das tiefer gehende philosophische Denken in Geschichten verpacken, um es dem Publikum zugänglich zu machen. Adaption und Anpassung auch hier. Ich könnte ja einen Polit-Thriller schreiben (sic!) Nein, da schreibe ich doch lieber einen Liebesroman. Ha.

Diese Dinge aber sind wichtig, denn sie bestimmen unser Leben, auch im Alltag. Die Regeln und Normen, die wir uns als Gesellschaften normativ setzen, beruhen auf Glaubenssätzen und Ideologien. Auch den neuen Humanismus, den ich vertrete, ist so ein Gerüst aus Glaubenssätzen. Ich nehme viel Gutes aus der verblichenen Sozialdemokratie, aus ihren Wurzeln. Leider war sie eine Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und hat den Sprung in die digitalisierte Welt des 21. Jahrhunderts nicht richtig geschafft. Ebenso nehme ich Teile aus der Gründungszeit der liberalen Demokratien, eine Bewegung des 18. Jahrhunderts, welche sich nur noch in kargen Resten unserer kodifizierten Glaubenssätze widerspiegelt. Beiseite, weil durch die Geschichte als untauglich erwiesen, lasse ich die kollektivistischen Modelle des Sozialismus und Kommunismus. Dasselbe gilt für nationale Theorien, die in Zeiten globaler Macht- und Wirtschaftssysteme ebenfalls an Bedeutung verlieren werden und sich trotz einer gegenwärtigen Renaissance wohl kaum mehr auf Dauer durchsetzen können. Zu kompliziert ist die Welt geworden, zu offensichtlich die Vorteile der Kooperation gegenüber der Konkurrenz, das zumindest kleinere Länder sich eher im Verbund auf der Weltbühne präsentieren als als Nationalstaaten. Die Europäische Union ist da erst der Anfang, auch in Afrika gibt es solche Unionsbestrebungen und selbst in Asien redet man schon davon.

Es tut gut, diesen Gedanken freien Lauf zu lassen. Mein Hirn funktioniert also noch (sic!) zumindest insoweit, dass ich diese Gedanken, die ja der Normalsterbliche nicht unbedingt jeden Tag denkt, formulieren kann. In wie weit ich es dann schaffe, diese Gedanken auch gesellschaftlich zu platzieren, steht auf einem anderen Blatt.

Wie gesagt, verdichtet in Dichtung. Verpackt in Charaktere und in Geschichten vielleicht? Wir werden sehen. Auf jeden Fall sind sie schon mal von der Seele geschrieben.

Mittwoch. Es geht voran. Mit Hilfe der Sozialberatung hier vor Ort haben wir angefangen, den finanziellen Sumpf auszutrocknen, den die Sucht hinterlassen hat. Alles klärt sich langsam, altes längst Vergessenes wird nochmals in Angriff genommen und wiedergekäut. Der Finger liegt da in einem Wunden Punkt – und ich spüre die Krankheit deutlich in den letzten Tagen. Schließlich waren solche Dinge in der Vergangenheit immer so genannte „Trigger-Ereignisse“, die mich tiefer in die Sucht geführt haben, was mir hier in der geschützten Klinik-Umgebung nicht passiert. Hoffentlich, denn ich bin gerade in einer Situation, krankheitsbedingt, welche wir „trockenen Rückfall“ nennen. Nach der Konfrontation mit der Wirkchkeit wird nun die Willensstärke abgerufen, eben nicht mehr in alte Denk- und Verhaltensmuster zu fallen. Gerade jetzt sind die erworbenen Skills und Tools gefragt, denn ein Absturz in das Vergangene würde für mich wohl das Ende bedeuten. Die Narben an meinen Händen erzählen die Geschichte davon. Jedes Mal, wenn ich mich erinnere, wie es ist, alleine zu trinken, schaue ich auf das mahnende Mal, die Narbe am Arm, und sehe das Bild vom an die Wand spritzenden Blutes – und denke mir Markus, DAS willst du nie wieder!

Jetzt sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt in der Entwöhnung: Die alten Reflexe kommen hoch aus dem Unterbewusstsein und versuchen sich, im Alltagsleben zu manifestieren. Das Großhirn, ergo der Verstand sendet aber ein widersprüchliches Signal, nämlich das der Abstinenz. Dieser Widerspruch erzeugt einen inneren Konflikt, der an der Psyche nagt. Das Gute an der Sache ist, dass je mehr Zeit des Nicht-Konsumierens vergeht, dieser Widerspruch im Gehirn immer kleiner wird, und am Ende das Großhirn über das auf die falschen Programmierungen des limbischen Systems obsiegt – und die Trockenheit sich manifestiert. Die alte Gedanken-Autobahn des Konsumenten wird durch eine neue ersetzt und fest zu betoniert. Und das erfordert eben einige Zeit. Vor einem Jahr ohne Suchtmittel würde ich höchstens von einem labilen Zustand sprechen, erst nach zirka einem Jahr rechne ich mit einer stabilen Abstinenz.

Auf der einen Seite tut es verdammt weh, sich mit den alten Ereignissen zu konfrontieren. Auf der anderen Seite ist Konfrontation das Beste Mittel gegen die aufsteigende Panik, die dann in Schwindelanfällen mündet, weil das Hirn mit zu viel(!) Sauerstoff versorgt wird (man hat mir für den Fall einer aufsteigenden Panik empfohlen, in eine Plastiktüte zu atmen, um den Sauerstoffgehalt im Hirn wieder zu reduzieren, daneben benutzte ich japanisches Minzöl zum inhalieren – und es hilft tatsächlich). So kann ich eine Panik unterdrücken. Das mulmige Gefühl der Aufsteigenden Angststörung kann ich jedoch derzeit noch schlecht bekämpfen, so dass hier noch mehr Übung nötig ist.

Bewerbungen muss ich schreiben für eine Aufnahme in eine so genannte Adaption, sprich die Möglichkeit, in einer Gruppe von Leidensgenossen wieder langsam an das normale Alltagsleben hingeführt zu werden. Alternativ kann ich es zuhause mit Hilfe des Sozialdienstes versuchen oder aber mit einer ambulant geschehenden Nachsorge. Ich neige zu ersterem, da vieles in der Gruppe einfacher zu bewerkstelligen sein kann. Es muss eben die richtige Gruppe sein. Da vieles dieser Optionen über kirchliche Träger läuft, verlasse ich mich ganz auf die Kompetenz meiner Suchtberaterin. Sie ist Profi und geht mit solchen Fällen tagtäglich um. Ich bin nur Profi, was meine eigene Erkrankungen angeht.

Es passiert etwas mit mir. Zum ersten Mal in der Therapie kann ich loslassen! Ich habe keine Lust, die Nachrichten zu lesen, die ich bekomme oder was in der Welt passiert, denn es berührt mich in meiner jetzigen Lage eh nicht. Ein Gefühl der Befreiung macht sich breit. Mit geht es gut hier in meiner geschlossenen kleinen Welt und draußen kann passieren, was will. Ich werde definitiv besser schlafen nach all den anstrengenden Papierkram- und Therapiesitzungen. Es ist auch der neuen Achtsamkeit geschuldet, dass ich so genau auf das achte, was in mir vor sich geht. Ich war sehr erschöpft diese Tage und man sieht mit die Erschöpfung auch an. Nicht zuletzt, weil ich auf falsche Medikamente eingestellt bin. Hoffentlich klärt sich das mit der neuen Diagnose bald. Die Arbeitstherapie habe ich mit Bravour bestanden, so dass meine Lösungen der Aufgaben nun als Musterlösungen dienen und die Rentenversicherung einen positiven Bericht über meine Arbeitsfähigkeit erhält. Die nämlich ist besser als erwartet und ein nine to five Job wäre durchaus machbar, wären da nicht diese unsäglichen Panikattacken von denen ich weiß, dass sie nur illusorisch sind, die aber das Alltagsleben immens erschweren. Was ich brauche, ist eine geschützte Umgebung, in der ich mich frei entfalten kann. Talent und Fähigkeiten sind da, jetzt müssen die psychologischen Hindernisse, die ein normales Arbeiten verhindern, beseitigt werde. Und dann wird alles gut. Nicht zuletzt deshalb habe ich heute ein Bewerbungsschreiben in eine Adaptionsgruppe in Stuttgart verfasst.

Mich zieht es zurück in die Heimat, in Hessen und im Raum Frankfurt möchte ich nicht bleiben. Ich fühle mich hier fremd. Nicht schlecht aufgenommen, nein, aber es fehlt hier das besondere Flair meiner Süddeutschen Heimat. Es ist schwierig zu beziffern, eher nur ein Gefühl, ein Heimatgefühl, welches mir hier fehlt.

Und dennoch habe ich eine Heimfahrt vor der Therapie-Beendigung abgelehnt. Es ist einfach noch zu unsicher, eine solche Reise in die Vergangenheit zu machen. Und am Wochenende könnte ich eh meine Sachen nicht erledigen. Da bleibe ich doch lieber bis zum Therapie-Ende hier, zumal sich ja in mir Dinge gerade jetzt regen und ändern und die Gewohnheiten einer neuen Persönlichkeit sich entwickeln. Die Loslösung aus den alten Gewohnheiten ist immer noch im Gange, zumal ich ja in meinem Überschwang etliche Lücken und Löcher in meine schon verloren geglaubte Persönlichkeit gerissen habe. Ich möchte diese neue Gelassenheit und die wieder erstarkende Persönlichkeit nicht mehr missen. Auch das, wenn man so will, ist ein Therapieerfolg.

Wohin die Reise medizinisch geht, ist zur Zeit noch nicht klar, klar ist aber, dass die dem Alkoholismus zugrunde liegende Störung weiterer Behandlung im abstinenten Zustand benötigt. Das ist für mich überlebenswichtig, denn alleine die psychische Störung, die ich seit dreißig Jahren oder länger mit mir herumtrage, ist lebensgefährlich. Die Suizidrate bei dieser Diagnose beträgt 30%. Das heißt, alleine die Grunderkrankung legitimiert eine Behandlung, die jenseits der Suchtentwöhnung liegt. Die Gefahr eines „Unfalls“ potenziert sich im Zusammenhang mit einem Suchtmittel. Auch deshalb ist gerade jetzt eine Heimfahrt auszuschließen.

Körperlich geht es mir so la la. Wie gesagt, die seditiernden Medikamente wirken dämpfend und ich leide unter Schwindelanfällen. Mein Kreislauf geht ab und zu in die Knie. Der Blutdruck ist trotz Dosissteigerungen immer noch sägend hoch. Ich schlafe gut, bis zu zwölf Stunden die Nacht, habe aber Schmerzen in den langen Nervenbahnen beim Einschlafen. Die Polyneuropathie lässt grüßen. Ich leide unter Schmerzen nachts, die künstliche Hüfte macht sich bemerkbar, genauso das linke Knie. Das Alter kommt eben nicht von alleine und ich spüre die Jahre des Raubbaus am eigenen Körper deutlich. Das wird auch nicht mehr besser werden, die Jahre der jugendlichen Unbeschwertheit sind für mich nun endgültig ad acta gelegt. Auch hiermit gilt es jetzt umgehen zu lernen. Nämlich der Tatsache, dass diese Beschwerden nun endgültig Teil des Alltagslebens geworden sind.

Selbstverständlich geht es mir abstinent sehr viel besser als trinkend. Kein Durchfall mehr, kein morgendliches Übergeben, kein Zittern, keine Krämpfe, keine Schlaflähmungen oder lock-in Zustände. Da hat sich in den Wochen der Therapie vieles zum Guten entwickelt. Hoffentlich bleibt das auch so.

Zurück zu dem, was in mir passiert. Manchmal denke ich, wer will das alles lesen. Schließlich ist es nur einer von hunderte, wenn nicht gar tausenden Genesungsberichten. Aber ich denke, eingebunden in einen bemerkenswerten Lebenslauf und garniert mit einer tragischen Lovestory wird auch dieser Text sein Publikum finden. Und schließlich war ich so oft dem Tode nah, dass alleine das schon Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Und schließlich bin ich absolut offen und ehrlich in diesem Brief und Bericht.

Also zurück in jenes in mir. „Introspektion ist nicht möglich“, lautet ein Merksatz in der Psychologie. Das heißt, von außen ist eine Innenansicht in die psychischen Vorgänge eines Menschen nur durch Selbstbeobachtung und Selbstbetrachtung möglich. Und selbst diese täuscht, denn die muss die Filter des Bewussten durchlaufen, um an die Außenwelt zu gelangen. „Wir müssen die Emotionen im Hinterkopf durch all die Hirnlappen hindurch ins Vorderhirn jagen“, um zu einer rationalen Bewertung der inneren Vorgänge eines Menschen zu kommen. Diese Rationalisierung jedoch filtert die Aussagen des Innenlebens durch die Schablone der Veranlagung des Hirns sowie durch das Erlernte – und entzieht sich so einer vergleichenden Betrachtung.

Deshalb versuche ich in meinen Texten Dinge so ungefiltert wie möglich wiederzugeben. Um sie dann dem Verstand zugänglich zu machen. Erschwerend kommt jedoch hinzu, das bewusste Introspektion, das achtsame Hineinhören in sich selbst seinerseits gefiltert wird, nämlich durch die eigenen Wahrnehmungsfilter, so das instinktives Handeln sich oft nicht rational bewerten oder analysieren lässt. Die Gewohnheits-Datenautobahnen brennen sich durch Erfahrung so tief in unser unbewusstes Hirn ein, dass wir selbst oft Schwierigkeiten haben, sie zu erkennen, geschweige denn zu erklären. Nun kann ich aufgrund meiner Erfahrung, nämlich positive wie negative Extremausprägungen von Emotionen und Verhaltensweisen berichten, vielleicht sogar etwas besser als andere Menschen, die diese Ausbrüche nicht erleben und dennoch in ihren eingeübten Verhaltensmustern genauso „gefangen“ sind.

Ich zum Beispiel habe es gelernt, die künstlichen Downs, induziert durch die Medikamente zu genießen. Das Gefühl des Abgehobenseins, den leichten Schwindel, das Gefühl nicht ganz bei mir zu sein, selbst die vegetativen Veränderungen im Körper wahrzunehmen ohne sie steuern zu können, das Gehen, welches eher an ein langsames Dahinschweben erinnert, die Zeit, die unfassbar schnell vergeht. Das Eingeständnis, dass in diesen Momenten ich nichts dagegen tun kann, sondern mich hinsetzen bzw. hinlegen muss und es einfach vorüberziehen lassen. Die Machtlosigkeit des bewussten Ichs gegenüber dem Unbewussten hinzunehmen und zu akzeptieren ist wichtig für mich im Laufe dieser Genesung geworden. Die Frage, die dabei auftritt ist natürlich: Wer oder was steuert denn diese unterbewussten Prozesse, auf die wir mit Therapie und medizinisch einwirken wollen? Das Freudsche Über-Ich?

Die beschriebenen Prozesse laufen üblicherweise automatisiert ab und all die Übungen und Skills und Tools die wir hier lernen, zielen darauf ab, diese Automatismen zu beeinflussen. Dass das funktioniert, weiß jeder, der schon einmal in einem Land mit Linksverkehr gefahren ist. Das automatisierte Rechtsfahren muss vom Verstand übertüncht werden, was auch gelingt (auch wenn ich mich zumindest des öfteren auf der falschen Straßenseite wiedergefunden habe) denn dahin zwingt mich das erlernte, automatisierte Rechtsfahren. Erst nach einiger Übung gelingt es, auch unbewusst die „richtige“ Straßenseite zu befahren. Das Hirn hat also nach einiger Zeit gelernt, den Automatismus um zu steuern. Genau so ist es mit den unbewussten Prozessen z.B. in einer Suchterkrankung auch. Der automatisierte Griff zur Flasche oder zum Joint muss wegtrainiert werden, wie das Rechtsfahren im Linksverkehr auch.

Nun ist das in der Gesellschaft im allgemeinen sehr viel schwieriger als im streng regelgeleiteten Straßenverkehr. In der Kneipe zugeprostet wird mit rechts und links gleichermaßen. Rauchen kann man mit beiden Händen. Insofern sind diese gesellschaftlichen Automatismen weitaus schwieriger neu zu Konditionieren. Es ist machbar, aber erfordert viel Zeit und viel Übung. Vor allem, wenn es um seelische Gesundheit geht.

Ich möchte noch einen Augenblick bei der Seele verbleiben. Seele, was ist das? Kann man sie sehen? Messen? Riechen? Schmecken? Betasten? Ist sie unser Verstand, unser Geist? Nein, sie bleibt sowohl der körperlichen Erfahrung wie auch der geistigen Kontemplation unzugänglich. Was passiert aber, wenn zwei Seelen sich begegnen? Die Seele hat eine riesige Bedeutung für unser menschliches Dasein. Es ist genau die Tatsache, die uns vom Tier als auch von der Maschine unterscheidet. Hat ein Regenwurm eine Seele? Oder ein Roboter? Wohl kaum. Der Mensch hingegen eben doch. So tut er im Seelischen Dinge (empfängt und sendet Liebe und äußert Gefühle via Sprache und Denken), die ihm weder körperlich noch geistig scheinbar einen Vorteil bringen. Und wie bei allem lässt sich die gesunde seelische Verfassung eines Menschen am besten an der Erkrankung festhalten. Durch das abnormale wird die Norm erst konstituiert.

Die Seele und das Seelenheil sind mir im Laufe dieses Lebens sehr wichtig geworden. Als ich von zwanzig Jahren darüber schrieb, waren es die wunderschönen Emotionen des Verliebtseins, welches die Texte und Gedichte prägte. Das ist auch heute noch teilweise so, dazu gekommen ist aber diese neue Ebene, die Seelenebene. Sie geht über das einfache zwischenmenschliche hinaus, sie projiziert Liebe in einer anderen (höheren?) Ebene, sie transzendiert und wirkt sowohl über die Emotion als auch über Taten. Die Augen sind der Spiegel der Seele, sagt man. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, denn die Seele funktioniert auch ohne direkten Blickkontakt hinaus. Man kann die Seele eines Menschen oder höheren Tieres also fühlen. Nur wir wissen nicht genau, wie. Der Rettungsruf SOS heißt „Save Our Souls“ und nicht „Save Our Minds“ oder „Save Our Bodies“ Was also ist damit gemeint? Ein Priester nennt sich „Seelsorger“ und nicht „Geistsorger“ oder „Körpersorger“. Gewiss, diese Begriffe sind historisch und stammen aus Zeiten, in denen die Seele als religiöser Standardbegriff galt. Doch was ist die Seele nun ohne diesen historischen Kontext?

Auf jeden Fall ist die Seele das Organ der Liebe. Ohne Liebe verkümmert der Mensch, ohne Seele wird er kalt wie eine Maschine. Seelen schaden sich nicht, zumal wenn sie sich angezogen fühlen. Die Seele ist eines der letzten Großen Geheimnisse der Wissenschaft, und unsere Psychologie ist erst zweihundert Jahre alt. Seelen hingegen gibt es seit Jahrtausenden. Die Frage ist, ob diese Seelen über das Körperliche und Geistige hinaus existieren, als Energien oder als Kraft-Felder. Ich finde das jedenfalls eine spannende Theorie.

Zumal es in der Wissenschaft sehr große Hinweise auf Seelentätigkeit gibt. In der Theologie sowieso aber auch in der Medizin, wo der Placebo-Effekt den Einfluss nicht chemischer Prozesse auf Heilung dokumentiert. Die Seele wirkt, sie kann heilen, sie kann aber auch erkranken. Ein spannendes Feld, diese Seelenlehre.

Samstag. Es schneit. Der erste Schnee in diesem Winter der Unsicherheit. Leider schmilzt er sofort weg, wenn er auf den nassen Boden trifft. Typisches November-Wetter. Wie die Flocken eine schöne Weihnacht versprechen, dem Nass auf den Straßen aber nicht standhalten können, so schmelzen auch meine Hoffnungen für ein besseres Leben in dem schmutzigen Sumpf der Vergangenheit dahin. Ich versuche, alles richtig zu machen. Dennoch breitet sich ein Gefühl der Unzulänglichkeit aus, ein Gefühl der Machtlosigkeit vor der Krankheit. Ich habe gut geschlafen, bin aber innerlich unruhig, träume wirr und unvollständig, keine der Botschaften aus meinem Unterbewussten sind klar. Es sind nur Gedankenfetzen, die in eine wie auch immer geartete Zukunft schauen, viel Gutes Gefühl dabei, vieles aber durchzogen von einer nicht genauer definierbaren Furcht. Furcht vor was? Vor dem Neuen? Schlimmer als das Alte kann es nicht werden. Was soll bitte schlimmer sein, als den eigenen Abgang erleben zu müssen?

Deshalb betrachte ich die Zukunft mit etwas Spannung und mit mulmigen Gefühle im Bauch. Ich weiß die Institutionen der Gesundheitsfürsorge hinter mir und realisiere die Wichtigkeit dieser Auszeit hier. Eine Auszeit vom Werdenden, das retardierende Moment, das im klassischen Fünf-Akt-Schema der griechischen Tragödie dem Ende, der Katastrophe (hier im Sinne gemeint von Lösung) existiert.

Ich habe Hunger – und kann schlecht essen. Ich habe Durst und trinke zu wenig, Ich will rennen, doch meine Hüfte behindert mich, Ich will frei denken, doch die Gedanken kreisen um Profanes. Ich will lieben, doch die Liebe ist fern. Ich will sein, doch das Sein ist eine Qual, gesprenkelt mit ein paar Funken Hoffnung. Mein Verstand ist klar, meine Emotionen sind betäubt, mein Blick ist wach aber ängstlich.

Ich habe einen Tunnel malen dürfen gestern in der Kunsttherapie. Natürlich malte ich den Nahtod-Tunnel, den ich einige Male schon durchflogen bin, durch die Farben hinein in das Licht. Das weißeste, hellste und schönste Licht überhaupt. Ich durfte mein Gemälde vorstellen und berichtete davon. Hier in der Klinik gibt es einige Patienten mit ähnlichen Erfahrungen, so dass man daraus fast eine eigene Gruppe formen könnte. Ich bin also nicht alleine mit diesen Grenz-Erfahrungen – nur wird darüber meines Empfinden nach zu wenig gesprochen. Solche Ereignisse verändern Menschen, verändern die Wahrnehmung der Wirklichkeit. „Wie bist du zurückgekommen?“, wurde ich gefragt. „Voll der Dankbarkeit und Demut“, antwortete ich. Die Schilderung eines real existierenden Jenseits bewegt die Gemüter, schließlich ist es eine Reise, auf die wir alle einst begeben müssen. Und sie relativiert so vieles. Plötzlich bekommt das Spirituelle eine ganz andere Bedeutung als zuvor. Plötzlich ist da dieses Etwas, welches es zu erkunden und zu erforschen gilt. Was für die meisten Menschen ein Abstraktum ist, ist für mich fühlbare Realität. Ob nun im Traum, in Trance oder einfach nur in einer Eingebung, immerzu grenzt das Metaphysische an das Sein, manchmal überlappt es sich auch. Das sind dann diese besonderen Momente, von denen auch mein Schreiben zehrt.

Ich lese viel in diesen Tagen. Es tut gut, sich von den anderen Autoren Dinge abzuschauen. Und ich esse viel Süßes – mein Zahnarzt wird es mir danken. Immerhin bin ich weg von der Sucht – seit fünf Monaten jetzt, und immer noch wirft sie täglich ihre Schatten in mein Leben. Du wirst dein ganzes Leben damit konfrontiert sein, hämmert es in meinem Hirn. Die Krankheit ist nicht heilbar, man kann sie aber stoppen. Das zu verstehen erfordert tägliche Übung. Die Gewissheit, an einer tödlichen Erkrankung zu leiden zwingt einen zum gründlichen Nachdenken, auch über die eigene Endlichkeit und relative Unbedeutsamkeit des Einzelnen. Aber wenn ich mit diesem Text auch nur eine Seele erreiche und Dinge zum besseren verändern kann, hat sich all die Mühe schon gelohnt.

Sonntag. Heute mal keine Kirche, sondern Wäsche waschen. Es ist kalt geworden und es hat geschneit. Im Sommer bin ich hierher gekommen, im Winter gehe ich. Es war ein kurzer Herbst hier in der Klinik und ich habe von all dem Jahreszeitenwechsel kaum etwas mitbekommen, so war ich mit mir selbst und dieser Therapie beschäftigt. Ich fühle mich gut, aber etwas matt von den Medikamenten – und der Ausschlag in meinem Gesicht, der von der allgegenwärtigen Corona-Maske kommt, hat sich wieder verschlechtert. Also renne ich hier mit hochroten Backen herum. Vielleicht sollte ich eine Befreiung von der Maske beantragen, angeblich kann man das tun. Aber zum Schutze meiner selbst und anderer trage ich die Maske doch gerne und nehme die roten Flecken in Kauf. Gleich ist wieder Mittagsessen, und täglich grüßt das Murmeltier.

Heute ist Geburtstag meiner Tochter, herzlichen Glückwunsch von hier aus. Ich kann mich sehr gut erinnern an den Tag vor 26 Jahren, als Du das Licht der Welt erblickt hast, mein Kind, mein Wunschkind, meine Partnerseele, ich liebe Dich über alles. Auch wenn sich unsere Wege getrennt haben, und das ist auch gut so, denke ich an Dich täglich. Du musstest meinen Absturz ja nicht aus nächster Nähe erleben, gehst Deinen eigenen Weg. Ich hoffe inständig, dass ich Dich gut darauf vorbereitet habe. Ich denke aber schon und lasse Dich frohen Mutes ziehen. Du bist im Gebet bei mir.

Heute also keine Hugenotten-Kirche sondern eher stille Andacht im Zimmer und vor dem Rechner, der unermüdlich meine Worte schluckt. Wie ein treuer Kumpane lässt er ohne Widerstand die Prozedur des täglichen Schreibens über sich ergehen. Sommers wie Winters ist er für mich da und nimmt meine Ergüsse klaglos hin – so wie meine Leser hoffentlich auch. Schließlich möchte ich mit diesem Tagebuch und Brief zum Denken anregen.

Gestern habe ich stundenlang meditiert und mein Hirn tatsächlich in einen seltsamen Modus gebracht. Dabei habe ich eine teilweise Lähmung der Extremitäten erlebt und die Unfähigkeit, mich an irgendwas zu erinnern. Ich war komplett im hier und jetzt. Ich war wach, aber nicht hier. Mein Gehirn hatte abgeschaltet, das Kopfkino hatte eine Pause gefunden und die Gedanken kreisten nicht mehr um die allgemeine Lage oder über für mich belanglose Nachrichten aus aller Welt. Zum ersten Mal konnte ich die Konzentration nur auf mich und den Augenblick lenken. Mir ist bewusst, das mein Hirn dabei Höchstleistungen vollbringt, jedoch auf einer Ebene, die uns so einfach nicht zugänglich ist. Aber es war ein gutes Gefühl, zumal ich die Angst vor dem Zustand endlich ablegen konnte. Die Angst nämlich, nicht wieder in das hier und jetzt zurück zu finden. Jedes mal, wenn ich in Trance gehe, begleitet mich diese Angst, die Angst sich komplett in die Meditation fallen zu lassen. Es macht etwas mit mir. Was allerdings genau, bleibt mir ein Rätsel. Aber ich habe Trost gefunden und um Vergebung gebeten und erhalten. Auch ein Licht habe ich am Rande gesehen, bin allerdings diesmal nicht in das Licht eingetreten, sondern habe es vom Rande aus beobachtet. Schön war es, wie immer, warm und freundlich. Ich fühlte den Hang meiner Seele, diesen Körper verlassen zu wollen und in die spirituelle Sphäre einzutreten.

Immer wieder bin ich erstaunt darüber, wie viel Zeit diese Innenschau benötigt. Und hier habe ich tatsächlich die Zeit, diese Innenansicht zu er-leben. Ich spüre den Drang zum Metaphysischen und stelle mir vor, dass ich in diesem Leben auch beruflich mich diesen Dingen widmen muss. Das heißt, meine neue Beschäftigung muss sich in irgendeiner Art und Weise mit diesen Dingen beschäftigen – oder aber mir den Raum und die Zeit lassen, dieses zu tun. Meine Erfahrungen sind zu wertvoll, um sie einfach im Äther verklingen zu lassen, ohne die Resonanz auf die Schwingungen zu erzeugen und zu ermöglichen, wie es meine Seele jenseits des menschlichen Alltagslebens tut.

Es tut gut, in die Stille zu hören in das Rauschen der Welt, ohne selbst ein Teil oder ein Getriebener dieses Rauschens zu sein. Es tut gut zu erfahren, dass es jenseits unserer materiellen Vorstellung andere Sprach- und Kommunikationsräume gibt. Es tut gut, Liebe zu erfahren und geben zu können. Und das auf hohem spirituellen Niveau. Jetzt verstehe ich auch, warum ich diese Auszeit brauchte. Um mich selbst besser, oder von einer neuen Seite kennen zu lernen. Der Aufenthalt hier dient also nicht nur der Abstinenz von der Sucht, er ist auch Teil eines Selbsfindungsprozesses.

Zum Arbeiten bin ich fit, laut Arbeitstherapie, doch sollte diese Arbeit zumindest etwas beinhalten, was ich im Laufe dieses Prozesses gelernt habe. Nicht wieder ein Verstellen des Selbst, nicht wieder eine Rolle, die ich weder spielen kann noch will. Eine Tätigkeit, in der mein Können (was ja beachtlich sein soll) und meine Fähigkeiten zum Wohle aller unter Beweis gestellt werden kann. Die zwanzig plus Jahre in der Politik, mit tiefer gehenden Gedanken sollen ja nicht umsonst gewesen sein, auch wenn ich im Augenblick mehr als Bittsteller denn als Macher auftreten muss. Das hat das Denken ja nicht gestoppt. Im Gegenteil, durch die Nichtbeschäftigung im Außen hat sich die Beschäftigung mit dem Innern ja nur noch vermehrt. Auch durch die Grenzgänge zwischen Alltag und Meditation, zwischen aktivem Handeln und Introspektion, zwischen krank und gesund und zwischen Leben und Tod haben mein Denken verändert. Ich bin viel bescheidener geworden, lade nicht jedes Problem in der Welt auf mein Gewissen und wirke da, wo ich eben nun kann, mit der Hilfe anderer auch. Auch dafür bin ich zur Dankbarkeit verpflichtet, dem Personal hier, genauso wie den mir verbleibenden Freunden und meiner Familie, die es mit mir weißgott nicht einfach hat(te).

Nun schält und häutet sich der Kern des Seins. Wie in einer Metamorphose schält sich etwas heraus. Das dabei Substanz verloren geht, ist klar. Substanz, die allerdings geprägt war von falschen Vorstellungen und Wünschen, die ich von anderen adaptiert hatte. Man will es ja jedem recht machen und dabei macht man so vieles falsch, weil man sich seiner eigentlichen Aufgabe verschließt und verbohrt dem Ideal anderer nachhängt, anstatt sich sein eigenes Ideal zu bauen und seine eigenen Ziele zu verfolgen.

Das alles habe ich erfahren in meiner Innenschau, in meiner Selbsthypnose, in meiner Autosuggestion, in meiner Trance, in meiner Meditation. Unbewusste Prozesse an die Oberfläche kommen lassen, ohne dabei von diesen beherrscht zu werden ist die Kunst für ein weiteres, tieferes Dasein, in das ich die ersten Schritte unternommen habe. Ich hoffe ja, dass das ausgelebte tiefere Dasein nicht zu sehr von Folklore oder anderem gesellschaftlichen Brimborium begleitet sein wird. Mit Goethes Worten, ich suche einen Ort, wo ich sein darf, Mensch sein darf, und nicht als minderwertiger Teil einer Machtmaschine fungieren muss.

Freies Denken kann gefährlich sein, in anderen Gesellschaften noch viel mehr als bei uns. Doch kann ich die Lücken im Gesellschaftsgefüge nutzen, um dort eben befreit mir meine Gedanken zu machen. Ob sie dann gehört werden, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Ich schreibe diese Zeilen auch etwas in Trauer, denn ich habe von meinen Großeltern geträumt, von einer noch heilen Welt, in der ich zeitweilig leben durfte. Ich bewundere jeden, der ein Teil heile Welt leben darf. Das ist gut so. Übrigens ein Grundpfeiler meines liberalen Denkens: Die Menschen machen sich schon das gute Leben wenn man sie nur lässt. Da braucht es keinen Allumfassenden Patriarchen, schon gar nicht in Form eines Staates, um ihnen zu erklären, was gut für sie ist. Hilfe, ja, so wie jetzt in meinem Fall. Hilfe kann der Staat geben. Aber steuern sollte er die Leute nicht.

Aber es war doch gut, Dein Leben, warum hast Du es dahin gegeben? Nein, das ist nur teilweise wahr. Die Fotos der „glücklichen“ Zeit zeigen nur die halbe Wahrheit. Sie zeigen nach außen ein schönes Bild, vieles sieht im Nachhinein aus wie eine Idylle (der stolze Vater mit dem glücklichen Kind). Doch Kopfschmerzen und Unwohlsein sieht man auf den Bildern ja nicht. Ich kann mich an vieles erinnern, Situationen, die zwar nette Fotos hervorbrachten, in denen ich mich aber hundeelend fühlte. Lange Zeiten in meinem Leben, was ich zwar gelebt habe, aber welches nicht mein Leben war, sondern immer nur die Erwartungshaltung anderer verkörperte. Das ist nun zum jähen Ende gekommen. Ich will diese Art von Kulissenleben nicht weiter führen und lasse nun alle Masken fallen, um das wahre Gesicht des Markus zu leben, das wozu er einst geboren wurde. Um Dinge zu er-leben, zu be-greifen, zu ver-stehen. Und dann um mit-zu-teilen.

Ich spüre etwas aufsteigen in mir, abseits von Wut oder Scham oder gar Mitleid. Noch bin ich hier, noch kann ich darüber schreiben, noch kann ich über die Unwägbarkeiten eines verkorksten Lebens berichten. Noch schlägt mein Herz, allerdings neuerdings viel zu schnell, so dass berechtigte Annahme besteht, dass es etwas Schaden genommen hat, in den Stürmen des Lebens. Ich muss mit dem Rauchen aufhören, so lange ich noch kann! Unglaublich, was wir uns mit Alkohol und Nikotin über Jahrzehnte antun. Bei nüchterner Betrachtung macht das überhaupt keinen Sinn. Wir sind nicht geboren worden, nur um verzögerten Suizid mit Suchtmitteln zu verüben. Jeder Arzt würde da sofort zustimmen!

Was macht es dann so schwierig, auf diese Gewohnheiten zu verzichten? Was ist die treibende Kraft hinter der Sucht? Wenn ich das wüsste, säße ich nicht hier in einer Suchtklinik! Eskapismus, die Flucht aus der realen Welt, die einem so viel Leid angetan hat, ist sicherlich eines meiner Hauptmotive. Erst jetzt, mit über 50 Jahren verstehe ich, wie verhängnisvoll in der Kindheit erlittene Traumata im höheren Alter sein können. Lange Vergessenes kommt zum Vorschein, lange Verdrängtes dringt an die Oberfläche und mit der Unmöglichkeit, diese Prozesse zu stoppen, greift man zum chemischen Hilfsmittel, um das Trauma weg zu bekommen. Diese Prozedur ist selbstverständlich niemals von Erfolg gekrönt – kann sie gar nicht sein, denn das Trauma sitzt tiefer als die Sucht, ist Ursache und nicht Wirkung. Nicht die Sucht verursacht das Trauma, sondern das Trauma verursacht die Sucht. So wird ein Schuh daraus.

Also besteht die einzige Möglichkeit der Traumabewältigung darin, hinter die Kulissen zu schauen und das geht nur, wenn dauerhaft keine Suchtmittel in Spiel sind, sondern die nackte, oft unschöne Wahrheit auf dem psychologischen Behandlungstisch liegt. Das wiederum erfordert Vertrauen, sowohl in die Wirksamkeit der Therapie wie in die Therapeuten auch. Dieses Ur-Vertrauen in die Menschen ist traumatisierten Kindern jedoch genommen worden und ist im Erwachsenenalter nur schwerlich wieder herzustellen, da wir es mit hochemotionalen Prozessen zu tun haben, die tief in unseren Hirnwindungen ablaufen, größtenteils auch noch unbewusst dazu und es Jahrzehnte dauern kann, bis sich ein Kindheitstrauma in eine handfeste psychische Erkrankung manifestiert.

Und genau das ist bei mir passiert. Ich habe jahrzehntelang verdrängt und die Selbstreflektion mit dem Geschehenen verweigert. Immer übertüncht, immer den Normen entsprechend, oftmals darüber, versucht, die seelischen Verletzungen, die ich in früher Kindheit und Jugend erlitten habe, zu verbergen. Erst jetzt, mit dem Absturz hin bis zum Selbstmordversuch fange ich an, mich mit diesen Prozessen vertraut zu machen und die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind und nicht, wie sie sein sollen. Es ist ein schmerzhafter Prozess, den ich unter „Normalbedingungen“ wohl nie angefangen hätte. Aber jetzt geht es endlich mal in diesem Leben nur um mich, um meine Gesundheit und dieses Denken ist neu für mich, der es lange Jahre lang gewohnt war, über die Sorgen und Nöte anderer zu brüten. Das hat mich letztendlich krank gemacht und monatelang ins Krankenhaus und wahrscheinlich jahrelang in Therapie. Die Frage ist nur, wie kaputt bin ich schon und was lässt sich noch retten? Werde ich zum Pflegefall oder schaffe ich es noch, auf eigenen Beinen zu stehen? Kommt da in diesem Leben noch was – oder war es das schon? Und den Rest verbringe ich als Patient?

Wir werden sehen. Ich sehe die Lage hoffnungsvoll. Voraussetzung allerdings ist, dass ich a) nüchtern bleibe und b) aus den Schablonen und Denkmuster der anderen ausbreche. Ich muss mein Leben selbst gestalten, sonst gestalten andere es für mich. Lasse ich mich wieder darauf ein, in Kompromissen und Schubladen zu denken, werde unweigerlich noch kränker werden und am Ende mit der Krankheit sterben.

Ich kann, und tue, mich glücklich schätzen, dass ich überhaupt noch da bin und all dies erzählen kann. Im alten Denken ist das Sein-an-sich eine Last und das existieren nur eine Abfolge von schmerzhaften Prozessen. Im neuen Denken ist das Sein-an-sich ein Geschenk, die Bonusrunde nach dem durchgespielten Leben. Jeden Herzschlag, den ich verspüre nehme ich an als Geschenk. Ich hätte längst nicht mehr da sein sollen und habe erneut eine Chance bekommen.

Ich hoffe, ich langweilige Dich nicht mit diesen Gedanken, liebe Alte Seele. Doch hier in der Isolation habe ich endlich die Zeit und die Muse, etwas tiefer in die erstarrten Schemata des Denkens einzutauchen. Ich wurde von der Krankheit sprichwörtlich aus dem Leben gerissen und habe die Abwärtsspirale umgedreht. Denn alles, was wir tun, ist erst einmal nur ein Gedanke. Denken, Fühlen, Handeln. Die drei Grundsäulen unseres Seins und jeder Schritt bedingt den anderen. Alles hängt mit allem zusammen, über die Windungen unseres Hirns genauso wie durch die Tiefen unserer Seele.

Mein Abendgebet: Bitte Herr, lass mich die Dinge, die ich gut tun kann, tun. Und die Dinge, die ich nicht ändern kann, gelassen hinnehmen.

Montag, kurz vor dem Mittagsessen. Gruppentherapie, wieder hat es ein Mitpatient nicht geschafft und musste wegen eines Rückfalls die Therapie vorzeitig beenden. Obwohl hoch motiviert. Das zeigt einmal wieder, mit was für einer heimtückischen Krankheit wir hier es zu tun haben. Noch so viel Extrovertiertheit und nach außen kehren seiner Probleme hilft wenig, wenn man in der Introspektion, das heißt der Schau nach innen nicht stark genug ist, der Versuchung zu widerstehen. Eine Versuchung, wieder in alte Gewohnheiten zu fallen, wenn das Netz, welches man um und unter sich spannt dann im Ernstfall nicht trägt. Mich lässt das im Augenblick, wenn ich ganz ehrlich bin, relativ kalt. Ich bin zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich auch noch die Sorgen anderer auf mich laden könnte. Ich glaube, das ist auch gut so, denn die Sinnhaftigkeit einer solchen Therapie macht sich ja letztendlich am eigenen Verhalten danach fest. Hier drin ist alles recht einfach. Klare Regeln, eine klare Tagesstruktur, der man sich beugen kann und muss. Aber draußen ist kein Therapeut 24/7 an deiner Seite. Draußen sind wir auf uns alleine gestellt gegenüber den An- und Überforderungen der Gesellschaft und nicht jeder ist denen auch gewachsen. Ich kann nur für mich selbst sprechen und da sehe ich mich auf gutem Wege zur vollständigen Abstinenz, immer mit dem Schlimmsten vor Augen, welches sich unweigerlich wiederholte, änderte ich nicht grundlegend Dinge in meinem Denken. Du hast etwas geschafft. Woran andere jetzt schon gescheitert sind. Wollen wir mal hoffen, das es dabei auch in Zukunft bleibt. Glaube an die Abwesenheit des Bösen und das Gute ist da. Es geht hier schließlich weniger darum, etwas zu tun, sondern etwas zu lassen. Freiwillig zu lassen, um sein Verhalten gegenüber der Gesellschaft und vor allem sich selbst zu ändern. All diese Institutionen sind dafür gebaut worden, um Leuten wie mir zu helfen. Da ist das Mindeste, was ich tun kann, mich an die Spielregeln dieser Institutionen zu halten. Schließlich verhindern sie einen weiteren Absturz, der für mich der letzte sein könnte. Immer wieder jeden Tag muss ich mir die Ernsthaftigkeit der Lage vor Augen halten! Ich habe keine Spielräume mehr, was die Sucht betrifft. Es gibt nur diesen einen gangbaren Weg, so unangenehm er auch manchmal sein mag und so widerwillig man sich seinem eigenen Versagen täglich neu stellen muss.

Dienstag. Angstkurven haben wir gezeichnet. Wir sind jetzt in der Behandlung endlich an den Ursachen der Sucht angekommen. Angst bedingt Sucht und Sucht bedingt Angst. Mit fortschreitender Abstinenz kommen die eigentlichen Ursachen derselben zum Vorschein, nämlich die Angststörung und die Bipolarität. Ich sehe ganz deutlich im Verlauf der Angstkurven (das Hirn ist nicht in der Lage, ein 100% Angstniveau länger als 20 Minuten zu halten) die Schwachpunkte, die ich habe. Ich habe das Suchtmittel benutzt, um damit die Angst zu bekämpfen. Und zwar just in dem Moment der Abspannung und nicht der Anspannung. Ich schalte im Moment der Anspannung in einen „Überlebensmodus“, der dafür gut ist, in einer Panik-Situation zu funktionieren, das heißt, im Ablauf eine notwendige Tätigkeit nach der anderen auszuführen (beispielsweise beim Zugfahren). Es ist wie die negative Seite des positiven „Flows“. Äußerste Konzentration auf das Wesentliche, zum Überleben Notwendige, unter Ausschaltung des rationalen Verständnisses der Folgen der Handlungen. Nun sind in meinem Fall diese Angst-Attacken wiederkehrend und haben sich von den ursprünglich sie auslösenden traumatischen Erlebnissen verselbständigt. Um diese Attacken zu unterdrücken, habe ich jahrelang zum dämpfenden Mittel Alkohol gegriffen. Ich habe mich also selbst „behandelt“, in dem ich die aus dem Unterbewussten kommenden, der Wirklichkeit nicht entsprechenden, Impulse niedergedämpft habe, um die nächste Attacke zu verhindern. Als „Nebenwirkung“ dieser „Selbstmedikation“ entstehen dann wiederum neue Angszustände, wenn das Suchtmittel ausbleibt. Und fertig ist die Teufelsspirale von Angst und Sucht, die es mit Hilfe der Therapie zu durchbrechen gilt.

Erst jetzt verstehe ich, wie krank ich eigentlich bin. Dass die Ursachen der Sucht in traumatischen Ereignissen liegen, dass diese aufgearbeitet werden müssen und nicht mit Suchtmitteln unterdrückt werden dürfen, da dies das Leben mit dem Trauma tatsächlich verschlimmert und neue traumatische Situationen hervorruft, die dann wiederum neues Suchtverhalten provozieren. Das ist des Pudels Kern, mit Goethes Worten. Was ich bräuchte, was aber sehr schwer oder gar nicht mehr herzustellen ist, ist das Ur-Vertrauen in das Sein und in andere Menschen. Mein Unterbewusstes geht immer vom Schlimmsten aus, völlig losgelöst vom eigentlichen Geschehen in der Welt. Es hat gewissermaßen ein Eigenleben entwickelt, welches durch die Sucht reguliert wurde. Und das über Jahre hinweg, so dass sich die Suchtmechanismen tief in mein limbisches System eingebrannt haben und automatisiert konsumiert wurde, um die regulatorischen Prozesse im Hirn in Gang zu halten. Bis es eben nicht mehr ging und die Sucht zum determinierenden (bestimmenden) Faktor wurde. Die Angst vor der Nüchternheit hat mein Konsumverhalten geprägt und nicht der anfängliche Wunsch nach Rausch.

Nüchtern betrachtet habe ich die Sucht in meinen Jugendjahren entwickelt. Untersuchungen zeigen, dass Jugendliche schon in kurzer Zeit eine Sucht entwickeln können, für die der Erwachsene fünfzehn Jahre und länger benötigt. So waren meine prägenden Jahre im Alter von 14 bis 16, in der die Sucht schon entstanden ist. Das sind grob gerechnet vierzig Jahre, die ich diese Krankheit mit mir herumschleppe, allerdings mit langen Pausen (die längste immerhin 15 Jahre). Dies zu verstehen und zu akzeptieren ist der erste Schritt in der Ursachenbekämpfung der Sucht. Erst war die Angst, dann kam die Sucht und dann kam die Angst doppelt zurück – und es bildeten sich weitere psychische Störungen heraus. Ich möchte klar sagen, dass die anderen Störungen sich gerade in trockenen Zeiten vermehrt gezeigt haben! Also ist nicht die Sucht ursächlich für die Erkrankung, sondern die Erkrankung hat die Sucht weiter befeuert.

Was heißt das nun für die Zukunft? Nach Abschluss der Entwöhnungsbehandlung hier gilt es, die ursächlichen Dinge weiter zu behandeln. Dies muss ich der Suchtnachsorge und in einer anschließenden Psychotherapie geschehen. Nur so lässt sich ein Wiederaufflackern der Sucht nachhaltig vermeiden. Die Sucht (egal mit welchem Suchtmittel!) hat sich manifestiert und ist im Suchtgedächtnis gespeichert, genau wie die Traumata auch und sie bedingen sich gegenseitig. Über bewusste Techniken nun versuchen wir, dieses eingespielte Tandem aufzulösen und so genannte „Trigger-Ereignisse“ zu bearbeiten und zu verhindern.

Nach außen sieht man diese Prozesse nicht. Nach außen sieht man nur die Sucht und man wird so auch abgestempelt. Nach den Ursachen zu fragen, bleibt Ärzten und Therapeuten und vielleicht den engsten Familienmitgliedern vorbehalten. Weil diese Menschen einen Wert in diesem Dasein erkennen und sich freiwillig für das Wohl des anderen verpflichtet haben. Das spendet Trost. Ein Faktum, welches unsere Gesellschaft zur humanen Gesellschaft macht, obwohl im Alltag oft Konkurrenz und Wettbewerb vorherrschende Themen sind.

„Jeder stirbt für sich allein“, ist ein ziemlich schlechtes Motto, wenn wir als Menschen zusammen leben wollen. Wir sind soziale Wesen. Und dazu gehört auch die Akzeptanz der Schwäche des anderen. Wir alle haben Idealvorstellungen vom Leben und werden dann bitter enttäuscht, wenn sich diese Vorstellungen nicht verwirklichen lassen. Oft leidet der Selbstwert, oft kommen Depressionen und andere psychische Leiden dazu – in unserer spätkapitalistischen Leistungsgesellschaft ohnehin. Mehr Besinnung auf das Menschsein täte Not.

Auch hierzu ein Gedicht von mir. Nur ein Einzeiler: „Maschinen, nein, das sind wir nicht, wir tragen noch des Herzens Licht“.

Erst jetzt verstehe ich, wie krank ich eigentlich bin. Diesen Satz muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Krank im Bezug auf was? Mich selbst? Die Gesellschaft? Andere? Der Selbstzerstörungsmechanismus kommt aus dem Gefühl der Minderwertigkeit. Wozu soll ich noch sein, wenn ich nicht das sein kann, was ich sein will? Ja, nicht einmal weiß, was ich sein will? Verkleidet in dieses vermeintliche Paradox schleicht sich der Gedanke der Nicht-Existenz. Was denkt jemand, der nicht existiert? Nichts. In einer depressiven Phase obsiegt das Nichts über das Alles und das Sein ist nur noch lästige Pflicht. Das Sein ist Qual und Schmerz und die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines leidenden Daseins ist permanent. Im Übrigen ist die Weltliteratur voll mit Beispielen dieses Kampfes um Sinnhaftigkeit. „Sein oder nicht sein“, ist nicht nur die Frage, sondern „Warum dieses sinnlose Sein“?

Diese Fragestellung berührt mit die tiefsten philosophischen Gedankengänge der Menschen insgesamt. Die Sinnsuche. Manche suchen den Sinn in der Ausbildung ihres Egos. Andere suchen den Sinn, indem sie wieder anderen helfen. Die dritten suchen Sinn in Kunst und Literatur und wieder andere in Gott und Religion.

Meine Sucht und mein Niedergang ist auch Folge einer gescheiterten Sinnsuche. Mein kluger Schüler würde jetzt fragen: „Markus, was ist der Sinn des Lebens?“ Und ich müsste ihm antworten: „Ich weiß es nicht“. Sicherlich ist Sinn des Lebens nicht Leiden, obwohl (und die Bücher und die Bibel sind voll von diesen Geschichten) das Leiden auch ein Augenöffner für die Sinnhaftigkeit des Lebens sein kann, wenn man tief genug ins Leiden einsteigt und das Glück hat, es zu überleben.

Mittagessen. Schweinegulasch mit Kartoffel-Stampf. Lecker. Ich esse Fleisch hier in der Therapie, nehme aber nicht alle Mahlzeiten wahr. Draußen werde ich wieder freiwillig auf das Fleisch weitestgehend verzichten, aus ethischen wie gesundheitlichen Gründen. Aber hier scheint mir die Vollkost die richtige Wahl zu sein, um wieder zu Kräften zu kommen. Und das Essen ist sehr gut hier. Ich kann mich diesbezüglich nicht beschweren. An Hunger leiden muss ich gottseidank nicht, obwohl ich draußen sehr unregelmäßig esse, auch etwas, was ich von hier mitnehmen kann. „Ohne Mampf kein Kampf!“, wie ein Mitpatient es salopp ausdrückte.

Ich will noch ein wenig beim Leiden verbleiben. Denn Leidensgeschichten sind auch Geschichten, die man erzählen kann und vielleicht auch sollte. Aus Leid entsteht auch Erfahrung, die man teilen kann und vielleicht auch sollte.

Wie es zum Beispiel ist, in permanenter Angst zu leben, wie wir ja herausgefunden haben, der bestimmende Faktor in meinem Leben. In Angst vor täglichen Dingen, in Angst vor dem Einkaufen, dem Briefkasten, dem Arbeiten. In Angst vor den eigenen Alpträumen, in Angst vor Begegnungen, in Angst vor Beziehung und Bindung, in Angst vor allem und jenem. Leben in völlig unbegründeter Angst und ständiger Panik vor dem Kommenden. Das ist, was ich der Psychologie bieten kann. Eine Innenansicht eines Angstpatienten. Eine Introspektion.

Markus, vor was hast Du eigentlich Angst“, ist die Preisfrage. Ich weiß es nicht. Die Angst hat sich verselbständigt und von jedem äußerlichen Ereignis gelöst. Sie liegt wie ein bleiernes Kostüm auf meiner Seele. Ich habe Angst vor allem. Eine unbewusste Angst, die mein ganzes Leben zu bestimmen bedroht, die quält und lähmt – und die ich erfolglos versucht habe, weg zu betäuben. Lebensaufgabe muss es daher jetzt sein, sich dieser Angst zu stellen – um festzustellen, dass die Angst in den meisten Fällen völlig unbegründet war und ist. Angst ist ein notwendiger, archaischer Schutzreflex, der in der Evolution sicherlich seine Berechtigung hatte (die steinzeitliche Angst vor wilden Tieren zum Beispiel) aber in unserer modernen Gesellschaft keinen Platz mehr hat. Ängste lähmen und sind kontraproduktiv. Niemand sieht mir von außen die Angst an – aber sie ist mein ständiger Begleiter.

Einkaufen. Diesmal leider ohne Glücksmoment. Ich spüre die Krankheit, wie sie nach mir greift. „wie krank bist Du wirklich, Markus“ stelle ich mir die Frage. Ziemlich krank, weil die Angstattacken im Alltagsleben doch sehr hinderlich sind. Sie kommen aus dem Nichts und überfallen mich wie dunkle unsichtbare Gegner in der Nacht. Ständig muss ich auf der Hut sein, ständig aufpassen, dass sie nicht rücklings zuschlagen. Ein deja vu des tatsächlich vorgefallenen Überfalls? Ein Flashback? Nein, heute gottseidank nicht. Aber das Gefühl des Unguten begleitet mich wie ein Schatten. Ich werde es nicht los. Wie soll ich nur damit leben lernen? Ich fühle mich wie ein kleines Kind, welches Laufübungen macht und immer und immer wieder hinfällt. Fallen, aufstehen, weiter laufen. Und das im unendlichen Zyklus. Aber wie das Kind durch das Fallen letztendlich laufen lernt, so lerne ich wieder das Alltagsleben. Schritt für Schritt bestätigt sich das Selbstbewusstsein – und jeder weitere Tag ohne Fallen ist ein Geschenk. Auch ein Therapieerfolg.

Wie krank und kaputt bist du wirklich, Markus? Kann man dich heilen? Gibt es noch Hoffnung?Was kannst Du mit dieser Krankheit überhaupt noch machen? Diese Frage beschäftigt mich schon den ganzen Tag heute. Hoffnung gibt es sicherlich. Heilung bis zu einem bestimmten Maße auch, schließlich bemühe ich mich darum, nutze die Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems, mache Therapien und höre auf die Beratungsstellen. Ich lerne jeden Tag dazu, und das ist für jemanden in meinem Alter auch nicht selbstverständlich. Zumal ich den Weg letztendlich alleine gehen muss. Und letztendlich passiert die Heilung in mir und nicht um mich herum.

Ohne Gesundheit ist alles nichts. Ein zweiter Satz, der in meinem Kopf herumschwirrt. Und mit Gesundheit meine ich nicht nur die Abwesenheit von Krankheiten. Mit Gesundheit meine ich auch die Fähigkeit, das Gute im Leben zuzulassen, die gebotene Hilfe auch anzunehmen. Die wildesten Pläne für meine Zukunft kann ich getrost in den Mülleimer der vertanen Chancen stecken, denn alles Kommende beruht auf die Annahme, dass ich gesund bin und bleibe. Und davon bin ich noch ein ganzes Stück entfernt.

Die Abwesenheit von Gesundheit stellt mich aber vor andere Fragen. Was benötige ich für ein glückliches Leben? Nicht wirklich viel. Sicherheit, ein wichtiges Thema. Geborgenheit. Fürsorge. Eine Lebensaufgabe. Eine gesund machende Umgebung, keinen krank machenden Job. „Das große Glück der Menschheit war schon immer das kleine Glück der Menschen“, hat mal ein sehr weiser Mensch gesagt. Und es stimmt auch. Aufs Wesentliche reduziert braucht der Mensch nur sehr wenig von den, was unsere Gesellschaft produziert. Vieles ist „nice to have“ aber nicht zwingend notwendig. Wir alle sollten uns den Spiegel vorhalten und uns fragen: „brauche ich das wirklich?“ Die Antwort wird in den meisten Fällen lauten: Nein. Und dennoch häufen wir weiter unnütze Dinge an, nennen das „Lebensstandard“, obgleich die Lebensqualität zugunsten der Lebensquantität verloren geht.

Bitte verstehe mich nicht falsch, Alte Seele. Ich plädiere nicht für eine von oben gleich verteilte Gesellschaft, ich bin Befürworter von Angebot und Nachfrage. Aber ich bin auch für eine Einsicht dessen, dass nicht all das, was wir in unserer Gesellschaft als erstrebenswert halten, dies auch ist. Bei mir zumindest ist notgedrungen ein sprichwörtliches Gesundschrumpfen, eine Besinnung auf den Kern des Seins notwendig.

Es fällt mir schwer, meine Gedanken, die aus der Tiefe der Emotion kommen durch den Filter meines Bewusstseins aufs Papier zu bekommen. Dennoch versuche ich, in die Stille hinein zu hören. Auch hier hilft ein Gedicht von mir an Dich: „Hörst Du die Stille? Denn in der Stille bin ich da. Weil ich Dich Liebe“. Im Nichts ist alles und alles ist Nichts. Oder wie die Alten Griechen sagen würden: Oben wie unten, unten wie oben. Oder mit Leibniz‘ Worten „um das Alles aus dem Nichts hervorzubringen genügt eine eins.“ Ich habe heute meinen philosophischen Tag, wie Du merkst.

So wie für einen Theater-Schauspieler die Bühne die „Bretter für die Welt“ bedeuten, bedeuten Bücher und das Schreiben die Welt für mich. Der leer blinkende Kursor ist die Bühne, das leere Blatt. Der Text ist die Rolle, das Leben das Schauspiel. Ob es dann eine komische Tragödie oder eine tragische Komödie wird, wird die Zeit zeigen. Die Zeit schreibt die Geschichte, Gott oder die höhere Kraft führt Regie und der Leser ist das Publikum. Eine Rolle wird gespielt, im stillen Kämmerlein und die Kritiker sitzen vor den Bildschirmen, anonym und meistens ganz still und leise. Der Smiley ist der Beifall und der Reply ist die Zugabe in diesem Spiel. Lange schon habe ich die Regie abgegeben. Es ist nicht gut, gleichzeitig Protagonist und Regisseur in seinem Drama zu sein.

Denn ein Drama wird hier gegeben, mit Lust, Liebe und Tod und Verzeihung und Auferstehung. Es wird an den Grundfesten der Existenz gehörig gerüttelt. Es wird gelitten und geliebt, betrogen und vergeben. Das Leben ist ein immer währendes Stück, bei jeder Aufführung einzigartig und nur selten vor großem Publikum gegeben. Das Leben ist ein Spiel. Ha, welch Erkenntnis (den bitteren Sarkasmus hier verstehst Du wohl).

Vielleicht sollte ich mich mal an einem Theater-Stück versuchen, mit viel innerem und äußerem Monolog. Wäre spannend, so etwas zu schreiben oder zu spielen.

Ich muss zum Abendessen. Und meine Tabletten nehmen. Mahlzeit!

Mittwoch. Gute Nachrichten, ich bin schon ganz aufgeregt. Nach der Therapie hier geht es für mich nahtlos weiter in einer Adaptionsgruppe, das heißt drei bis vier Monate lang weiter stationäre Klinik, allerdings mit Anbindung an den Arbeitsmarkt. Danach bin ich also im Frühjahr 2023 insgesamt neun bis zehn Monate lang in diversen Kliniken gewesen. Das zeigt, wie akut und wie schwer meine Krankheits-Situation ist. Ich bin aber sehr gespannt auf die neue Erfahrung. Gottseidank befindet sich die Klinik in der Nähe meines Wohnortes, so dass ich dringende Dinge erledigen kann. Das Gute an der Adaption ist die ärztliche Begleitung in der Zeit. Vom Gefühl her ist es das genau richtige für mich, denn immerhin bin ich zwei Jahre lang nicht auf dem Arbeitsmarkt gewesen und fühle und spüre, dass gerade eine sinnvolle Betätigung mir zur Zeit auch fehlt.

Hauptsache ist, dass es weiter geht – und ich nicht die Gefahr laufe, in mein altes, krank machendes Umfeld zurückfalle und dass es praktisch ohne weitere Wartezeiten geklappt hat. Das freut mich.

Donnerstag. Kein guter Tag heute. Ich spüre die Krankheiten deutlich. Mir ist schwindelig und ich mache mir Sorgen über Sorgen. Warum bist Du so krank geworden? Warum bist Du hier in dieser Klinik? Wo in deinem Leben bist Du falsch abgebogen? Marterfragen. Ich bin in einer bipolaren Mischphase, aufsteigend. Das heißt, ich will sowohl sofort alles machen, andererseits zieht die Depression in Grübeleien – und der innere Druck steigt. Nach außen hin ist nichts sichtbar, doch meine Seele kocht, und selbst kleinste Dinge wie ein Wäschewaschen kosten unendlich Überwindung.

Natürlich habe ich auf diese Fragen keine Antworten, ansonsten wäre ich nicht hier. Aber Tage wie dieser, wo mich ein Fußballspiel fasst aus der Fassung bringt, zeigen, wie fragil das gute Denken im Alltag noch ist. Ich sorge mich um Dinge, die weit in der Zukunft und weitestgehend außerhalb meiner Macht sind. Völlig unnötigerweise.

Ich habe beschlossen, das Rauchen aufzugeben. Aus gesundheitlichen wie finanziellen Gründen. Dabei helfen mir Pfefferminzbonbons, die mir allerdings die Zähne ruinieren. Ein toller Tausch. Nicht. Ich fühle mich wie ein Wrack, vom einstigen Stolz der Erscheinung, vom (in der Hochphase) alles Könnenden zum einsamen Grübler. Doch ich weiß mittlerweile auch, dass solche Tage eben zur Krankheit gehören, und dass ich das schlechte Denken auch unterbrechen kann. Unter anderem, indem ich diese Zeilen schreibe. Schreiben ist Therapie für mich. Sind die Denkprozesse einmal auf Papier oder in den PC getippt und geteilt, sind sie in der Welt und raus aus dem Kopf.

Ja, das Rauchen, mein ständiger Begleiter seit der Jugend, seit ich ungefähr zwölf Jahre alt war. Dann fünfzehn Jahre lang ohne (wie zum Beweis auch hier, dass es ohne besser geht) und seit ungefähr drei Jahren wieder eine Schachtel am Tag. Ich will weg vom Nikotin und Koffein. Denn das Gegenteil von Abhängigkeit ist Freiheit und mich nervt es zunehmend an dem blöden Glimmstängel zu hängen. Ich werde zunehmen, wenn ich aufhöre. Das ist der Preis der Freiheit. Außer ich reduziere mein Essen, denn das Nikotin schraubt den Energieverbrauch des Körpers hoch. Auch so genannte e-Zigaretten sind für mich keine Option, da hat man zwar Dampf statt Qualm und weniger Schadstoffe, doch der Suchtstoff, das Nikotin ist ja derselbe.

Auch hier verstehe ich verstandsmäßig die Mechanismen der Sucht. Ich weiß, was ich meinem Körper mit dem Rauchen antue. Und doch ist die Gewohnheit stärker als mein Wille bislang. Das muss sich ändern, Markus muss clean werden, um in den Stürmen des Lebens wieder einigermaßen stolz segeln zu können. Schließlich will ich nicht auch noch Krebs bekommen. Ich bin krank genug. Sagt’s und geht eine rauchen. Sic!

Ein Moment zum Einfangen. Beim Rauchen schupperte ich in die kühle Herbst-Brise hinein und roch, frisch geduscht, den Geruch des modernden Laubs. Ein Gefühl der Freiheit umgab mich, frei von den Lasten der Vergangenheit. Was war, war. Was kommt, kommt. Und was ist, ist. Für einen kurzen Augenblick wurde mir deutlich, dass ja nach diesem Neubeginn die ganze Welt mir offen steht, dass die Einschränkungen, die ich habe ja größtenteils mir selbst auferlegte sind. Ich fühlte mich einen kurzen Moment wie ein Zwölfjähriger im Schullandheim, der im Geheimen in der Ecke genüßlich aber hastig an der Zigarette zieht. Ein Gefühl, welches ich seit dreißig Jahren nicht mehr hatte. Ein Gefühl von Abenteuer und Gefangensein gleichzeitig. Seltsam, in diesem Alter noch (oder wieder?) solche Gefühle zu entwickeln. Ein Moment. Unser Leben ist eine Anreihung von Momenten. Und nur wenige sind es wert, eingefangen zu werden.

Ich esse schlecht, muss mich hier im Klinik-Takt zum essen zwingen. Mein Bauch meldet „Hunger“ und mein Kopf dagegen „Hungerstreik“. Ich habe keine Ahnung, woher das kommt. Also stelle ich mich in die Schlange und esse nur den halben Teller. Aber Freude macht das zurzeit nicht. Am liebsten würde ich das Essen ganz einstellen, fasten, und stundenlang vor mich hin meditieren. Bücher lesen, Texte schreiben. Nicht ein Gedicht habe ich in der ganzen Zeit, die ich hier bin hervorgebracht. So sehr war und bin ich mit mir selbst und der Annahme und Überwindung der Krankheit beschäftigt. Das ist schade, denn in den Gedichten werden die Emotionen des limbischen Systems komprimiert und konserviert. Wie ein Maler ein Bild vor seinem inneren Auge sieht, so höre(!) ich ein Gedicht. Es ist wichtiger wie es sich anhört wenn es aus den Tiefen des Universums durch mein Reptilienhirn in Emotion verpackt, in Sprache gehüllt, vom Verstand getippt oder geschrieben wird, bis es dann endlich das Licht der Welt und die Tiefen des Internets erblickt und dann irgendwann den umgekehrten Weg nimmt und im Auge des Betrachters sich durch dessen Verstand, in dessen limbisches System vorkämpft und dort Emotionen auslöst. Dann hat die emotionale Kommunikation über den Text funktioniert.

Das gesprochene Wort ist schneller am Ziel, nämlich bei den Emotionen, als das geschriebene. Deshalb finde ich die Podcasts, die ich mache auch so wichtig. Mit der Stimme verbindet sich ein Charakter, der Zuhörer macht sich ein konstruiertes Bild des Senders im Empfänger bereit, welches weg vom abstrakten, gesehenen Text die Nuancen des Sprechens beinhaltet. Beim Video geht dieser Teil, das Persönliche Einbilden verloren. Der Hörende schafft sich ein Bild vom Sprechenden. Der sehende sieht einfach nur. Deshalb ist bei jedem Film oder Video der Ton wichtiger als das Bild. Und die Soundtracks erinnern uns an eine Lovestory mehr als jedes Movieposter. Text hingegen muss auch noch durch den visuellen Lernapparat des Lesens hindurch, wodurch der Autor sich weiter vom Leser entfernt und noch weniger Bildsubstanz für das innere Auge des Betrachters liefert. Du bist ja ganz anders, als ich mir vorgestellt habe, habe ich auch schon von Leserinnen und Lesern oder Hörerinnen und Hörern gehört.

Genau das gefällt mir aber am Text: Die Leute müssen sich ein eigenes Bild vom Schreiber machen. Und das tut jeder auf seine individuelle Art und Weise. So kann sich der Leser seelisch für einen kurzen Moment mit dem Schreibenden verbinden, obwohl er oder sie ihn oder sie gar nicht persönlich kennt. Ein Gedicht kommt aus der Emotion (bei mir Leid oder Liebe meistens) und im besten Fall erzeugt es im Leser Emotionen wie Mitleid oder Gegenliebe.

Ein spannendes Experiment. Stelle Dir vor Du wärst wieder zwölfjährig und hättest die ganze Welt und Dein ganzes Leben vor Dir. Würdest Du alles machen wie bisher? Würdest Du mit dem Wissen eines 53-jährigen anders durchs Leben gehen? Ich denke schon. Ich würde vor allem auf die Entwicklung der Sucht besser achten, denn bewusst oder unbewusst hat sie mein halbes (immerhin im Vergleich zu anderen nicht ganzes) Leben dominiert. Ich bin damit aufgewachsen, durch Schule und Studium gegangen und habe ein Kind nicht nur in die Welt gesetzt, sondern auch großgezogen. Alles unter dem Diktum der Abhängigkeit, die allenfalls für Jahre ausgesetzt aber niemals komplett geheilt wurde. Weil meine Seele beschädigt war und ist. Ich bewundere Menschen, die frohen Mutes auch in schwierigen Zeiten durchs Leben gehen, seien die Umstände noch so widrig. Ich habe diese Gabe nicht, sondern neige zum Schwermut und zum überdramatisieren von Dingen. Als Kind wollte ich Wissenschaftler werden, der eine Pflanze entwickelt, die so schnell wächst, dass niemand auf der Welt mehr hungern muss. Das bin ich leider nicht geworden, sondern nur ein kleines Rädchen im System der Politik. Das Schöne am alten Job (nicht alles war schlecht), war die Freiheit zu denken und sein Denken als Input in das System zu bringen. Ich habe die Arbeit ja nicht als „Job“ gemacht, sondern dem höheren Zweck der Freiheit des Einzelnen dienend. Und ich habe diese Arbeit verdammt ernst genommen, wie der immer noch andauernde Trennungsschmerz ganz deutlich zeigt. Man wurde zumindest gehört, wenn oft aber nicht für voll genommen, obwohl sich meine Analysen und Prognosen oftmals bewahrheitet haben.

Nun läuft dieses gehört werden über meine Social Media Kanäle und diese Texte ab. Immerhin bin ich in der Lage, Texte zu produzieren und nicht nur zu konsumieren. Da klafft ein gewaltiger Unterschied zum Otto Normalverbraucher, der sich ununterbrochen mit Reizen des Systems ausgeliefert sieht, kaum mehr fähig, all die Eindrücke und Handlungsempfehlungen auch zu verarbeiten beziehungsweise zu befolgen. Auch hier bin ich der Meinung, weniger ist mehr. Qualitativ gute Informationen zu bekommen ist auch nicht ganz einfach in Zeiten des Netzrauschens. Man kommt mit dem Filtern gar nicht hinterher, so dass die Gefahr, sich Falschinformationen unter jubeln zu lassen, steigt.

Dies gilt nicht nur für Verbraucher von Informationen sondern auch für deren Produzenten. Am Beispiel des Ukraine-Krieges sehen wir, wie die Wahrheit verzerrt wird, von beiden Seiten gleichermaßen. Ein Krieg heutzutage wird in den Echo Chambers des Netzes genauso ausgefochten, wie mit Kanonen oder Raketen. Das nennt sich dann „Information Warfare“ und ich bin davon betroffen, wie alle anderen auch. Auch deshalb muss ich den Input an Informationen in mein System besonders sorgfältig prüfen. Eine viertel Stunde Tagesschau am Abend reicht da nicht.

Auch heute bin ich mit dem Bewusstsein aufgewacht, dass ich krank bin, in der Klinik, die mittlerweile mein zweites Zuhause geworden ist. Auch heute bin ich mir des beschränkten Lebensradius bewusst, den ich gerade habe, dass ich nicht einfach alles tun kann, was ich gerne täte. Dass die Krankheit eine echte Behinderung in meinem Leben darstellt und dass das auch in Zukunft so bleiben wird. Auch heute wieder heißt es, Therapie-Arbeit zu leisten, in der Gruppe wie einzeln sich immer und immer und immer wieder vor Augen führen, was man eigentlich hat und wie es zu behandeln ist. Auch heute wieder muss ich Medikamente nehmen, die mich von der Depression ein Stück weit wegbringen. Auch heute wieder muss ich achtsam sein in dem, was ich denke und tue, Heute ist ein Tag, ein neuer Tag, ein weiterer abstinenter Tag, ein Tag in Richtung gutes Leben.

Noch immer habe ich das Hunger-Essen-Problem. Ich habe zwar Hunger aber überhaupt keinen Appetit. Mein Geschmackssinn ist immer noch Corona-getrübt und das Essen fühlt sich oftmals an, als würde ich auf einem Stück Pappe kauen. Schade eigentlich, denn das Essen hier ist, wie schon berichtet, durchaus sehr gut. Heute ist Freitag und es gibt Fisch, wie jeden Freitag. Und am Samstag gibt es immer Suppe und am Sonntag immer Braten. Die leeren Kalorien der Marmeladebrötchen am Morgen lasse ich weg, dafür ist das Abendbuffet umso reichhaltiger. Ich habe weder zu- noch abgenommen in der Zeit hier, so dass die Ernährung schon passt. Schließlich sind die Ernährungspläne ja von professionellen Ernährungsberatern gemacht – und die Küche arbeitet toll. Auch das ist, wenn man so will, ein positives Zeichen in dieser Therapie.

Ich möchte noch etwas bei dem Gefühl bleiben, in dem Bewusstsein zu erwachen, dass man krank ist. Ich jammere hier auf hohem Niveau. Ja, ich habe eine schwere Krankheit, die mich lange Zeit an Kliniken bindet. Ja, diese Krankheit ist gefährlich und führt im Endstadium in den wenig schönen Tod. Diese Krankheit ist ernst und lebensbedrohend, rein körperlich wie vor allem seelisch. Meine Seele ist krank, mehr als mein Körper, und ich spüre das jeden Tag. Man kann die Krankheit stoppen, aber die Schäden an Körper, Geist und Seele sind nur teilweise reversibel, so dass Folge-Erkrankungen eher die Regel als die Ausnahme sind. Ich denke hier in erster Linie an das Herz aufgrund des immer noch relativ hohen Blutdrucks (trotz Medikation) und an die Lunge wegen des Rauchens und der COVID-19 Langzeitfolgen.

Es wird eine Heimfahrt werden, allerdings nicht in mein altes Zuhause, sondern in die nächste Einrichtung zum Training wieder arbeits-fit zu werden. Im Moment weiß ich nicht, ob ich meine alte Wohnung überhaupt so schnell wiedersehen werde. Spannende Zeiten.

Mitagessen.

Samstag Morgen. Juhuu, ein neuer Tag. Wieder Wochenende, gähnende Langeweile. Am Wochenende finden keine Therapien statt, so dass man sich die Zeit irgendwie füllen muss. Auch das Essen ist nicht so gut, am Samstag gibt es immer Eintopf. Ich habe Nachrichten im Internet gelesen, Energiekrise in Europa. Hausgemacht mit einer falschen Diktatoren-Appeasement-Politik der letzten Jahrzehnte. Aber mich tangiert das nur peripher, da ich ja in den geschlossenen Institutionen dieses Landes verweile. Anders als Millionen von Menschen, die echte Angst um ihre Heizung in diesem Kriegswinter haben. Neun Monate zieht sich der Konflikt nun schon hin – und ein Ende ist nicht absehbar. Die Politik reagiert zunehmend hektisch und weiß sich nur noch mit Alarm-Statements zu helfen. Das beruhigt die Bürger in keinster Weise, sondern trägt zur allgemeinen Verunsicherung mehr bei als es hilft. Das Vertrauen in die Standhaftigkeit unserer Demokratie ist auf ein Tief gesunken, doch echte Alternativen zum gegenwärtigen System sind auch nicht in Sicht.

Wenn es so weiter geht, wird Europa diesen Winter von einer Massen-Flucht aus der Ukraine betroffen sein, denn dort harren die Menschen im Winterwetter ohne Strom, Gas oder Heizung aus. Russland bombardiert gezielt die Energie-Infrastruktur des Landes, um so den Kampfeswillen der Ukrainer zu zerstören und eine Massenflucht auszulösen. Ich verstehe das alles nicht. Jeden Tag sterben Menschen auf beiden Seiten in einem völlig nutzlosen Krieg. Ich verstehe auch nicht, was die objektiven Ziele Russlands sind – die völlige Zerstörung der Infrastruktur, um so eine Massenflucht aus schlichtem Hunger zu erzeugen? Betroffen davon wären in erster Linie Polen und Deutschland. Schon jetzt haben wir eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Mit der jetzigen Strategie Russlands werden es sicherlich noch ein Vielfaches mehr.

Im Vergleich zu diesen Menschen geht es mir relativ gut. Ich kann aber mit ihnen mitfühlen. Und dass der Konflikt uns alle betreffen wird, ist schon lange klar. Hier werden die Landkarten Europas neu gezeichnet. Auch wenn Russland keine schnellen Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen kann – stetig Wasser höhlt den Stein. Und ein Ende der Angriffe scheint nicht in Sicht. Es findet ein langwieriger Zermürbungskrieg statt, in dem die eine Seite die Luftangriffe nicht vollends abwehren kann (das Land ist riesig) und die andere Seite unfähig oder unwillig ist, kriegsentscheidende Maßnahmen zu ergreifen. So zieht sich der Konflikt über Monate und Jahre hin und die internationale Öffentlichkeit sieht sich an den Bildern von Zerstörung und Misshandlungen satt. Die Verwüstungen des Krieges sind zum Alltagsgeschäft der Nachrichtensender geworden. Es scheint fast, als ob man die ukrainische Zivilbevölkerung dem grausamen Aggressor opferte, um eine Eskalation des Krieges zu verhindern zu wollen. Dabei ist der Krieg schon lange eskaliert, doch wird er im 21. Jahrhundert eben anders geführt als früher. Dronen und Raketen auf zivile Einrichtungen anstatt große Feldheere, die aufeinander auf dem Schlachtfeld treffen.

Ich bin in diesem Konflikt vollkommen auf der Seite der Ukrainer. Was sie dort leisten, um den Aggressor zurückzuschlagen, ist bemerkenswert.

Selbst ich bin noch vom letzten großen Krieg in Europa beeinflusst. Alle meine Großeltern waren Opfer des Krieges. Mutterseits erlitten wir Annexionen von Heimat in Karelien (heute Russland) und in Schlesien (heute Polen). Auch in meiner Familie wurde noch viel über den Krieg erzählt, schließlich war meine Oma Flüchtling aus Schlesien und mein Großvater amerikanischer GI. In zweiter Generation sind wir Nachkriegskinder. So wirken Krieg und Vertreibung über Generationen hinweg in Gesellschaften hinein – und ich sehe nicht, wie das im Fall Russland gegen Ukraine anders sein soll. Selbst ein unwahrscheinliches Ende des Krieges wird Europa für Jahrzehnte wenn nicht gar Jahrhunderte prägen.

Denn – es ist schließlich ein Stellvertreterkrieg der da geführt wird, und die Akteure sind die selben wie so oft in der Geschichte. Die Bruchlinien der Geschichte liegen tausend Jahre zurück mit dem Aufstiegs der Kiewer Rus gegen das damalige Polen-Litauen. Auch heute noch lassen sich kulturelle Differenzen zwischen Ost und West ausmachen. Uralte Konflikte werden wieder hochgespült, angefeuert von einem radikalen Panslawismus – von der Idee, dass ein Volk über dem anderen steht, in der Angst, die Kontrolle über den Vielvölkerstaat, der die Russische Föderation ja ist, zu verlieren, wird ein falsches Nationalgefühl erzeugt und propagiert. Umso mehr wird auf der anderen Seite ein genauso verheerendes Nationalgefühl erzeugt, welches Hass und Gewalt als Lösung propagiert. Dabei ist eines klar: Die Ukraine kann nur im Bündnis mit dem Westen überleben. Es kommt auf den Westen – also uns an, wie nah an uns wir den russischen Aggressor kommen lassen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass Russland seinen Beutezug nicht noch weiter ausbreitet, wenn die Ukraine erstmal zerstört und teilweise zumindest an Russland annektiert wird.

Diejenigen, die diesen Krieg betreiben, denken im Großen. Für sie ist der Krieg eine Frage der Macht, ja da wird von einer multipolaren Weltordnung unter russischer Führung geträumt, von einer Wiederherstellung des „glorreichen“ (was es ja nie war, man lese Dostojewski und Tolstoi) Zarenreichs, mit einer neuen Aristokratie des Geldes und einem Sonnenkönig an der Spitze. Nichts könnte unwahrer sein als das. In vielen Teilen ist Russland heute immer noch ein Zweite-Welt-Land, welches in Wohlstand und Wirtschaftskraft kaum mit den Europäern oder gar mit den Amerikanern mithalten kann. So benutzt man rohe Gewalt, um seine strategischen Ziele durchzusetzen; mit den verabscheuten Mitteln des 20. Jahrhunderts versucht man, eine sich genehme Weltordnung herzubomben. Dass dabei tausende Menschen sterben, ist den Führern im Kreml herzlich egal, egal auch ob die Verluste bei den eigenen Truppen auftreten.

Ich sollte nicht zu viele von diesen Nachrichten lesen. Sie machen in mir ein schlechtes Gefühl und ändern an der Sache kann ich eh nichts. Dazu haben wir unsere gewählten Vertreter, in deren Haut ich gerade jetzt nicht stecken wollte. Hut ab vor den Menschen, die aus einem kleinen Wahlkreis aufkommend jetzt plötzlich Entscheidungen, nicht nur von Milliarden von Euro, sondern auch noch von Krieg und Frieden in der Welt treffen müssen.

Selten war die Welt so nahe dran am Dritten Weltkrieg wie heute. Selten war die Gefahr eines „nuklearen Unfalls“ so prävalent. Selten habe ich so viel Hilfslosigkeit in Staatsorganen erlebt. Und selten so viel Willen, die Sache, irgendwie, noch zum Guten zu wenden.

Nicht nur ich brauche eine Therapie, nicht nur ich bin krank. Es scheint die ganze Welt ein Virus der Dummheit und Machtversessenheit befallen zu haben. Nur leider gibt es für diese Art von Erkrankung keine Kliniken und keine Besserungsanstalten, mal abgesehen vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Doch ob man die Schuldigen jemals zur Rechenschaft ihrer Taten ziehen wird, ist eher unwahrscheinlich. Ich halte die Lösung eines „frozen conflicts“, also eines eingefrorenen Konflikts am wahrscheinlichsten. Beispiele hierfür sehen wir auf Zypern, in Georgien, Transnistrien oder im Nahen Osten, wo Konflikte ungelöst seit Jahrzehnten weiter vor sich hinflackern, ohne dass es endgültige Friedensverhandlungen gibt.

Es kann also durchaus passieren, dass der Ukraine-Krieg einfach zum Stillstand kommt und die de facto Lage als Provisorium und ungelöster Konflikt über Jahrzehnte stehen bleibt. Nun hat der neue Krieg allerdings ein anderes Ausmaß als die anderen ungelösten Konflikte in der Welt. So kann er wie der rote Fleck auf dem Jupiter als Sturm in der Weltordnung für Jahrzehnte toben.

So viel zu den Gedanken über die Außenpolitik. Mir fehlt der politische Stammtisch, die akademische Diskussion. Über zwanzig Jahre Politik gehen an einem nicht ohne Wirkungen vorbei. Ich werde mich auf in Zukunft politisch betätigen, nur weiß ich noch nicht, wie. Vielleicht als Teilnehmer an einem Think-Tank oder diversen Online-Foren zum Thema. Auch wenn mein Einfluss in der Politik ein eher geringer war, war er zumindest da. Das habe ich geliebt an meinem Job, das freie Denken.

Freies Denken trifft man eher selten an, damals wie heute. Ich erlebe ein politisches System, welches sich weitgehend von innen selbst befeuert anstatt auf die Impulse aus der Bevölkerung einzugehen. Dies führt dann zu Feedback-Schleifen, die Diskussion verselbständigt sich und driftet ins Parteipolitische Klein-Klein ab. Ich warte darauf, dass sich, wie z.B. in Frankreich eine Bewegung aus dem Volk herausbildet, welche sich nicht mehr an den traditionellen Parteigrenzen abgrenzt, welche unabhängig und frei Thesen für eine neue Republik formuliert. Die Franzosen haben da mehr Erfahrungen. Sie scheuen sich auch nicht, ein komplettes Regierungssystem umzuwerfen, falls es in ihren Augen nichts mehr taugt. Nicht so in Deutschland. Hier wird träge ausgesessen, neue Bewegungen werden misstrauisch beäugt und bei Wahlen nicht honoriert. So entsteht im Land ein Reformations-Stau, ein Filz, der am Ende den ganzen Staatsapparat lahm legt (siehe die gescheiterte Wahl in Berlin, die jetzt mühselig wiederholt werden muss). Wobei sich in den Umfragen kaum eine Verschiebung der Machtverhältnisse andeutet und wohl alles beim Alten bleiben. So kommt Deutschland im Vergleich zu anderen Nationen nur schwer in die Gänge, träge wie ein Tanker dümpelt es dahin, während andere im schnelleren Beiboot voraus fahren.

Was bräuchte eine solche Bewegung aus dem Volk? Zunächst mal eine Galionsfigur, hinter der man sich versammeln könnte. Unabhängig müsste sie sein, nicht geschliffen durch das politische System. Strikt dem 21. Jahrhundert verschrieben, ich denke da an jemanden um die vierzig. Eine charismatische Führungsfigur, der die modernen Wege der Vernetzung an der Basis auch verstanden hat. Kein Populist aber populär. Egal, ob Mann oder Frau. Jemand, der den Mut hätte, das Establishment herauszufordern. Jemand, der den Blickwinkel des „kleinen Mannes“ hat und dessen Lebenserfahrung verschiedene Standpunkte in sich vereinen kann. Jemand, der gut mit Medien kann oder aus den Medien kommt.

Politik kann Spaß machen, und diese Person müsste den Spaß an der Politik verkörpern und den Menschen im Land das Gefühl geben, dass sich etwas tatsächlich ändern lässt, und sei es nur mit der eigenen Stimme. Auch vor großen Reformen sollte man nicht zurückschrecken. Zu viel an Macht und Kapital hat sich in den letzten Jahren hinter den Türen der Parteizentralen versammelt, zu viel Inzucht hat das System praktiziert. Natürlich besteht in solchen Bewegungen auch ein Risiko – das Risiko des radikalen Spinners, wie es die USA gerade vor mach(t)en. Das wollen wir mit Sicherheit nicht. Aber es ist schon auffällig, wie andere Staaten, vor allem die europäischen, sich eine neue Generation von politischen Führern wählen, während bei uns höchstens Stagnation herrscht.

Ich möchte noch einmal sagen, wie ausdrücklich glücklich ich bin, und dankbar, dass ich in einem Land lebe, in dem ich all das frei sagen kann, in dem ich frei konstruktiv kritisieren kann, ohne dafür fünfzehn Jahre Haft fürchten zu müssen. Ich bin froh, in einem Land zu leben, welches sich auch um die Gefallenen in der Gesellschaft kümmert, in dem niemand hungern muss oder im kalten Winter erfrieren. Dieses Land gibt mir sehr viel, so dass ich jetzt in einer Bringschuld bin diesem Land gegenüber, in dem es funktionierende Sozialsysteme gibt.

Diese Episode in meinem Leben schärft definitiv den Blickwinkel zum Rand der Gesellschaft hin. Dazu möchte ich meinen Teil beitragen, wo ich nur kann.

* Alte Seele ist ein fiktives Konstrukt, meine imaginäre Freundin, an die ich meine Briefe und Gedichte richte

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