In Therapie, Teil 2

Es ist tröstlich zu verstehen, dass ich die Macht über mein Leben zurück habe – und es eben nicht die Krankheit entscheiden lasse, wann und wie es mit mir zu Ende geht. Man soll der höheren Kraft nicht ins Schicksals-Handwerk pfuschen. Auch wenn es einfach erscheint, dem sinnlosen Leiden ein Ende bereiten zu wollen, sich selbst quasi den Gnadenschuss geben (siehe Hemingway), ist es letztendlich wider das eigene Schicksal. Das ist so nicht vorherbestimmt und wir sollten die Zeit, die uns hier auf dieser Erde bleibt, konstruktiv nutzen, auch wenn es manchmal schwierig oder gar sinnlos erscheint. Das Leben ist ein Geschenk – und wir sollten es als solches auch lernen anzunehmen.

Niemand wird dich so verletzen, wie du es dir selbst angetan hast, Markus. Es wird nie wieder so schlimm, wie es war. Es liegt in deiner Hand.

Die Reflektion am eigenen Tod verändert natürlich die Sicht auf alles. Geld, materieller Wohlstand (was nützt mir der, wenn meine Seele krank ist?). Beziehungen, auch vergangene, werden mit neuem Maß gemessen und neu bewertet (gottseidank habe ich meine Tochter), selbst das Spirituelle und Religiöse erfahren eine Neubewertung. Der Nah-Tod rüttelt kräftig an allem, an jeder Vorstellung, an der Meinung dessen, was denn ein lebenswertes Leben ist, was erstrebenswert, was unnötig und unnütz (was ziemlich vieles ist).

Ich kann mir eine Rückkehr in eine Tätigkeit, in der nicht diese existenziellen Fragen eine Rolle spielen kaum vorstellen. Der Nah-Tod tauscht auch hier Ideale und Bestrebungen aus. Ich sehe die Dinge mittlerweile in anderem Licht – und auch in meiner privaten Kommunikation erlebe ich ein starkes Bedürfnis nach spiritueller Tiefe und Neuem.

Gerade einen Vortrag zu den gesundheitlichen Folgen des Rauchens gehört. Ich muss echt aufhören und kann glücklich sein, dass mein Körper die langen Jahre des Qualmens noch so gut weg gesteckt hat. Es ist schon Wahnsinn, was wir da unserem Körper antun mit den ungesunden Lebensweisen. Es sei niemandem zum Nachahmen empfohlen. Doch auch hier ist es wie mit dem Alkohol – es ist nie zu spät, um aufzuhören. Und was mich gerettet hat waren eben die fünfzehn Jahre Abstinenz, von allen Drogen. Diese Zeit wirkt stark und langfristig nach, und es ist an der Zeit, an diese Lebensart wieder anzuknüpfen.

Das abstinente Leben ist ein anderes als das Leben mit Suchtmitteln. Ich rauche primär zur Gewichtskontrolle, seit dem ich wieder angefangen habe, habe ich über 20kg an Gewicht verloren. Das, neben der gesteigerten Konzentrationsfähigkeit sind für mich die Hauptgründe, weiter zu rauchen – obwohl mir die gesundheitlichen Schäden, die daraus entstehen (geschätzte 30 Milliarden Euro gibt der Staat im Jahr für Rauchfolgeschäden aus, bei 150.000 Todesfällen und einer zehn Jahre verkürzten Lebenserwartung bei lebenslangen Rauchern) durchaus bewusst sind. Rauchen ist Selbstmord auf Raten, genau so wie das Trinken auch.

Noch also habe ich riesige Baustellen in meinem Suchtverhalten, doch eins nach dem anderen gehe ich die Problematik an. Überstürzen sollte man auch hier nichts – die Behandlung der Sucht benötigt Zeit. Wie beim Alkohol auch lassen sich alte Gewohnheiten nur sehr schwer brechen. Aber ich will da wieder hin. Zum cleanen Leben, zum guten Leben zurückkehren, welches ich ja zeitweilig trotz schwierigen Ausgangsbedingungen durchaus hatte.

Ich bin nun fast vier Monate weg vom Alkohol und es fühlt sich mittlerweile „normal“ an, nicht zu trinken. Auch das nenne ich einen vorläufigen Therapieerfolg. Es geht auch ohne, nein, ohne geht es erst recht! Das musste ich feststellen, nach dem ich auch heute wieder einer Lebenslinie eines Mitpatienten folgen durfte, die weit tragischer als meine eigene verlaufen ist. Je mehr ich von diesen Lebenslinien höre, umso mehr wächst in mir der Respekt vor den Menschen, die diese Lebensläufe haben durchleben müssen. So wie ich Respekt in der Gruppe für meine eigene Lebenslinie erfahren durfte, so gebe ich nun diesen Respekt auch in die Gruppe zurück.

Diese krummen Lebensläufe machen einen sehr nachdenklich, zumal man ja selbst mitfühlen kann. Irgendwie sind wir alle Wracks, Geschädigte, innerlich wie manche auch äußerlich kaputt und haben es irgendwie in das Rettungsboot der Suchtklinik geschafft. Auch hier bestätigt sich wieder einmal: Von außen betrachtet gibt es unter uns Patienten, denen man niemals es ansehen würde, was sie durchleben mussten. Schwere Schicksalsschläge sind da verkraftet worden, bei manchen schon sehr früh in der Kindheit, so dass man sich manchmal wundert, wie diese Menschen es überhaupt so weit gebracht haben und jetzt an einem Punkt angekommen, wo sie, trotz dieser Schicksalsschläge wieder aufstehen wollen, wieder Teil der Gemeinschaft werden, sich wieder neu aufstellen und zu erfinden, obwohl das drohende Damokles-Schwert der Krankheit über uns allen lastet wie die scharfe blitzende Klinge einer Guillotine über dem Kopf eines zum Tode verurteilten hängt. So gesehen vereint uns die Nähe zum Tod, weil bei einigen von uns tatsächlich die letzte Chance gekommen ist, nochmals in das Leben zurück zu finden. Die Alternativen sind grausam und schmerzhaft zugleich.

Gottseidank leben wir in einer Gesellschaft, die sich auch um Menschen mit Narben in der Seele und bei vielen auch am Körper kümmert und immer wieder bin ich erstaunt, was man auch diesen „Abschaum“ der Gesellschaft noch an Lebenswillen und Tatendrang hervorbringen kann, wenn nur das Suchtmittel weggelassen wird. Es ist verblüffend, welche Wandlungen hier so mancher in nur ein paar Wochen durch geht. Einige von uns kommen sprichwörtlich von der Straße, haben so gut wie alles verloren und trotzdem bringen sie den Mut auf, in der Therapie sich nochmals auf die Beine zu stellen. Andere brechen ab – und gehen auf dem Zwischenhoch (Ich nenne es „drinker’s high“) zurück in ihre alten Konstellationen. Bei denen sind die Erfolgsaussichten glaube ich relativ gering, denn die Krankheit lässt sich in ein paar Wochen nicht weg therapieren. Ganz weg geht sie eh nicht mehr, wenn man sie einmal hat, aber sie lässt sich aufhalten, bevor der endgültige Zerfall dann letztendlich zum Tode führt. Wir haben eine oder mehrere chronische Erkrankungen, die am Ende das Sterben bedeuten. So ist die Lebenserwartung eines männlichen Alkoholikers der raucht um sagenhafte 23 Jahre verkürzt!

Dazu habe ich eine eindrucksvolle Grafik einer Langzeitstudie gesehen, etwa die Hälfte der Patienten lebte nach einer Therapie abstinent und wies eine normale Lebenserwartung auf, etwa 20% trank weiter und der Rest war rückfällig und zum Ende der Langzeitstudie tot. Was passiert also mit Leuten, die nach einer stationären Therapie weiter trinken? Sie sterben einfach weg! Das ist eine Tatsache, die sich in meine Seele gebrannt hat, insbesondere wenn man an die hohe Zahl von Risikotrinkern nicht nur in diesem Lande, sondern weltweit denkt.

In der alternden Gesellschaft tickt eine riesige Sucht-Bombe. Viele ältere Menschen trinken vermehrt nach dem Eintritt in den Ruhestand. Bei ihnen zeigen sich aufgrund des Alters die Folgen eines Risikokonsums deutlich schneller als bei den ganz jungen Konsumenten. Weder die Gesellschaft als Ganzes, noch die Kliniken an sich sind auf diese Schwemme von Alterstrinkern gut vorbereitet. Noch läuft die Rehabilitation über die Wiedereingliederung auf den Arbeitsmarkt. Doch auch hier in der Klinik ist der Anteil der sich im Ruhestand befindlichen Patienten hoch. Die muss man nirgends mehr eingliedern, bei ihnen versagt also der Rehabilitations-Ansatz völlig.

Das sieht bei uns Dreißig- bis Fünfzigjährigen noch anders aus. Wir haben, wenn wir gesund bleiben, noch zwanzig Jahre oder mehr auf dem Arbeitsmarkt. Für uns „lohnt“ sich die Reha auch gesamtwirtschaftlich, denn der Ausfall eines sagen wir mal 40-Jährigen für immer zieht wahnsinnige soziale Folgekosten hinter sich.

Ich für meinen Teil hoffe, dass mein Ausflug in die Sozialsysteme ein eher kurzer bleibt. Die Ergebnisse der Arbeitstherapie lassen hoffen, und auch menschlich glaube ich, dass eine Wiedereingliederung in einigermaßen stabile Verhältnisse durchaus gelingen wird.

Ich habe etwas Heimweh entwickelt und kann es gar nicht erwarten, wieder stabil genug zu werden, um die Herausforderungen des Lebens auch selbständig meistern zu können, mit professioneller Hilfe, versteht sich. Ich hoffe nicht, dass meine psychischen Störungen noch längere Klinikaufenthalte notwendig machen. Aber selbst wenn es medizinisch notwendig wäre, wäre da immer noch eine ganze Stange an Lebenszeit übrig, die es zu füllen gibt. Dagegen sind die vier Monate hier geradezu ein Klacks.

Heutzutage ist man mit 50 noch nicht alt. Und in Zukunft wird sich unsere Gesellschaft auch immer mehr auf die großen alternden Jahrgänge einstellen müssen. Ich sehe mit auch nicht zu alt für einen beruflichen Neubeginn und bin gerne bereit, noch einmal die Schulbank zu drücken, um wider Zugang zum Arbeitsmarkt zu finden, was angesichts des Fachkräftemangels, der ja in den nächsten Jahrzehnten mit der Verrentung der großen Jahrgänge noch extrem zunehmen wird. Allerdings sehe ich mich nicht mehr in einem hochkompetitiven Umfeld tätig, sondern eher im sozialen Bereich. Auch hier fehlen Kräfte in ganz Europa in den nächsten Jahren und Jahrzehnten so dass ich da gute Chancen sehe, meine Erfahrungen und Talente gewinnbringend auch einzusetzen. „The show ain’t over until the fat lady sings“, lautet ein Spruch aus der Show-Branche. Und auch meine Vorstellung ist noch nicht vorbei. Sie läuft nur etwas anders ab als ich jemals gedacht hatte.

Zu schnell ging es bei mir abwärts und das Schlimmste konnte nur in letzter Minute verhindert werden, deshalb auch die Akut-Aufnahme in diesem Etablissement, worüber ich im Nachhinen nur sehr froh sein kann, denn mit jetzigem Wissensstand wäre es mir unmöglich gewesen ohne diese Therapie der Krankheit Herr zu werden. Keine Chance. Zu tief haben sich die schlechten Gewohnheiten manifestiert, zu sehr war ich damit beschäftigt, mich umzubringen, mal auf Raten mit der Sucht, mal plötzlich aus dem Nichts im Affekt. Es ist diese Übersprungshandlung, vor der ich Angst habe, weil ich sie selbst nicht verstehe. Im Gegensatz zur Sucht, wo das Wissen um die Erkrankung schon seit der ersten Diagnose vor über 20 Jahren da ist, ist mein Wissen über die neue alte Krankheit sehr beschränkt.

Das Gefühl ist, ins kalte Wasser geworfen zu werden, plötzlich konfrontiert mit der Diagnose einer manifesten Störung, die man weder verschuldet noch absichtlich herbei geführt hat. Und die mich begleiten wird, lebenslang in der einen oder anderen Form. Ich muss lernen, sie anzunehmen, mit ihr zu leben, den ärztlichen Rat befolgen und gegebenenfalls mehrere Klinikaufenthalte hinnehmen. Bevor ich wieder zum Messer greife, lasse ich mich lieber einliefern. So „einfach“ ist das. Sic. Ich muss mir das immer wieder vergegenwärtigen: So schlimm, wie es war wird es nie wieder, es sei denn du fängst wieder an. Diesen Merksatz brenne ich mir ins Gehirn, um dann damit gewappnet zu sein, wenn der Moment der Schwäche wieder kommt.

Mittwoch. Seltsamer Tag heute. Ich mache zwar alle Therapien mit, aber richtig bei der Sache bin ich nicht. Meine Gedanken kreisen um die Heimfahrt und das Leben danach. Ich habe so etwas wie einen „trockenen Rückfall“ und denke daran, wie ich wieder in meine alten Gewohnheiten in meiner alten Umgebung zurückfalle, in meine heimliche Bubble des einsamen sterbenden Alkoholikers. Dabei liegt mir nichts weiter fern! Ich will diese Abstinenz behalten und das Leben danach eben als gutes Leben gestalten. Ich will leben und nicht vom Alkohol gelebt werden. Die letzten Eskapaden haben mir ja gezeigt, was passiert, wenn ich Dinge nicht ändere, im Äußerlichen wie im Inneren. Die wieder aufziehenden Trink-Gedanken zeigen mir aber, dass die Krankheit längst nicht überwunden ist. Da helfen auch ein paar Monate Therapie nur bedingt.

Nur, wenn ich heute mit den Gedanken woanders bin, wo denn? Ich weiß es doch selbst nicht. Die letzten Tage habe ich viel über die Sinnlosigkeit meiner Affekt-Handlung nachgedacht. Über das Sein und Nicht-Sein. Ich fühle mich vollkommen nutzlos (auch dies ein Signal des limbischen Systems an die Großhirnrinde), eine Emotion die oftmals in einen depressiven Schub mündete. Nur bin ich diesmal besser gewappnet, habe Tools und Skills mich der Krankheit zu stellen. Ich hoffe nur, dass diese Tools und Skills so tief verankert werden, dass sie den Test der Zeit auch bestehen. Es ist Klinik-Alltag, Leute kommen und gehen. Nun haben wir in der Gruppe einen Mitpatienten, der ähnliche Störungen hat, ein Leidensgenosse sozusagen – und damit stehe ich mit meiner Bipolarität und meiner Angststörung in der Gruppe nicht mehr alleine da, was durchaus von Vorteil sein kann. Mal sehen, wie sich dieser Kontakt entwickelt. Die Medikamente stehen manchem in Weg. So leide ich an Schwindel und zeitweiliger Apathie. Sie tun also genau das, was sie auch sollen – mich herunterbringen vom Gedankenkarussell, die Phasen der übermäßigen Steigerung abmildern und so einen Puffer der emotionalen Ausschläge nach oben und unten bilden. Nur bemerke ich dadurch eine Wesensveränderung und fühle mich zeitweilig nicht mehr wie ich selbst, sondern eine andere, neue Person, die niemals all die Dinge tun würde, die der Markus, den ich kannte getan hat. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so.

Ganz wohl fühle ich mich als Sozialfall nicht. Es ist für mich ungewohnt, von anderen abhängig zu sein, Ärzte, Therapeuten, Mitpatienten. Ich bin es gewohnt, für mich alleine zu kämpfen, bloß das geht eben jetzt gerade nicht mehr. Aber der Impuls gegen den Rest der Welt anschwimmen zu wollen, ist in mir immer noch vorhanden.

Eine dreiviertel Stunde bis zum Abendessen. In einer Therapiesitzung haben wir einen „trockenen Rückfall“ geübt, das heißt, ich sollte mir vorstellen, wie so ein „idealer“ Rückfall ablaufen würde – und ich endete bei der Flasche Rotwein vor dem Computer beim Schreiben von Liebesgedichten. Schritt für Schritt haben wir den imaginären Rückfall durchgesprochen, von der Beschaffung (hier ein beiläufiges mitnehmen einer Flasche Wein), über die Annäherung (hier ein Betrachten im Kühlschrank) über den Akt des ersten Konsums (hier ein Ausspucken) bis hin zum Vollzug (hier das Trinken der ganzen Flasche). Dabei haben wir uns Interventionsschritte bei jedem dieser Punkte überlegt und welche menschlichen Grundbedürfnisse dabei berührt werden und wie (die da sind: 1. Bindung, 2. Kontrolle, 3, Selbstwert und 4. Lust). Das paradoxe Ergebnis dieser (im wahrsten Sinne des Wortes) „Trockenübung“ war festzustellen, das der Alkohol jedes dieser Grundbedürfnisse auf lange Sicht zerstört. Die wohltuende, anregende Wirkung dauert nur ein paar Stunden, die negativen Folgeschäden trägt man ein Leben lang. Es ist paradox, mit dem Konsum genau das zu zerstören, was man mit dem Konsum eigentlich erreichen wollte.

Diese Erkenntnis traf mich hart. Es war auch das erste mal (ich bin jetzt 11 Wochen hier), dass ich so klar umrissen einen Rückfall beschreiben konnte, ohne ihn tatsächlich auszuleben, dazu gäbe es auch hier Gelegenheiten genug. Aber nein, mein Stammhirn regiert jetzt über das limbische System und wir suchen nach Methoden, die emotionale Steuerung des Unterbewussten durch gezielte Aktionen im Bewussten zu beeinflussen.

Dass das funktionieren kann, habe ich während meiner 15-jährigen Trockenphase ja schon einmal gezeigt. Der Alkohol kann mir zwar eine Abkürzung in einen emotional hoch angeregten Zustand ermöglichen (viele meiner Gedichte und Stories sind so entstanden, die besten Parties wurden so durchgetanzt) aber es geht auch ohne! Es ist zwar schwieriger und aufwendiger den Zustand des hoch emotionalen Fühlens zu erreichen. Wenn man es aber schafft, sind die Ergebnisse nachhaltiger und besser als mit der Substanz, die zwar ein kurzfristiges High erschafft aber ansonsten über den Kontrollverlust den Rest an Lebenswillen zerstört.

Um es noch einmal an den vier Grundbedürfnissen zu erörtern:

  1. Bindung (an andere Menschen) wird ersetzt durch die „Wärme“ des Stoffs
  2. Kontrolle über das eigene Leben (Verantwortung) wird abgegeben
  3. Selbstwert wird im Entzug vernichtet
  4. Lust weicht Unlustvermeidung durch den Konsum

Der Abhängige tut etwas, um ein Ziel (in dem Fall Sorglosigkeit und Liebe zu erfahren) zu erreichen – und erreicht im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit das genaue Gegenteil! Verrückt, oder?

Aus diesem Teufelskreis auszubrechen ist denkbar einfach gesagt. Lass das Suchtmittel weg! Ich kann mir keine Situation ohne so schlimm vorstellen, wie die schlimmsten Situationen mit

Markus, es ist vorbei, das Trauma kommt nicht wieder hämmert es in meinem Kopf. „Wirklich?“, fragt die innere Stimme, die das kaum glauben mag und immer auf der Suche nach neuen traumatischen Erlebnissen das Unbewusste körperliche System in Alarmbereitschaft hält.

Ja, das sind die Gedankengänge eines Genesenden, der mitten im Prozess der Heilung steckt. Mir ist bewusst, dass im Augenblick diese Gedanken sehr dominant sind – und mit der Zeit im wahren, wirklichen Leben ein anderes Gleichgewicht wieder einstellen wird. Ich weiß genauso gut, dass ich die menschlichen Grundbedürfnisse mit anderen Strukturen besser befriedigen kann, so dass die Kontingenz auch gewahrt bleibt. Diese Methoden gilt es zu finden, zu üben und zu praktizieren. Die Medikamente helfen mir dabei.

Apropos Medikamente. Sie machen etwas müde und schwindelig, was den Alltag deutlich erschwert. Am liebsten würde ich sie absetzen, aber das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher illusorisch. Also kämpfe ich mich Tag für Tag durch den Schwindel und den unsicheren Gang. Immerzu muss ich mich beim Treppen steigen festhalten und mich beim Gehen Schritt für Schritt achtsam neu orientieren. Das ist noch ein ganzes Stück von meiner alten Kondition entfernt, an Sport ist mit dieser Konstitution erst gar nicht zu denken. Das finde ich schade, denn das Wetter, sonnig und kühl, lädt geradezu zum Fahrradfahren ein. Aber es geht halt im Augenblick noch nicht.

Nochmals den ganzen Tag Arbeitstherapie. Ich habe alle Aufgaben in der Hälfte der Zeit gelöst! So dass ich jetzt nur noch am korrigieren und Aufhübschen bin. Es tut gut, wieder etwas Praxis in Word und Excel zu bekommen. Schließlich bin ich seit zwei Jahren raus aus dem Geschäft und privat nutze ich Open Source-Software für meine Tagebücher und Podcasts. Podcasts werde ich erst wieder machen, wenn ich Zuhause bin, sei nun der alte Rechner hier in der Klinik mein einziges Sprachrohr neben den Social Media Accounts, die ich ab und an auch noch pflege, allerdings nicht so häufig wie üblicherweise. Es ist für mich einfacher, die Beiträge zu sprechen als sie mühselig im Zwei-Finger-System einzutippen. Aber dafür brauche ich die Ruhe meiner Wohnung.

Freitag Nachmittag. Ein Tag voller Gruppen- und Kunsttherapie und noch ein Malkurs oben drauf. Ich habe gut zu tun hier. Die Zeit vergeht wie im Fluge, das Ende der Therapie kommt langsam in Sicht. Ich habe hier eine verzerrte Wahrnehmung der Zeit. Die Wochen rennen in einem irren Tempo dahin. Ich weiß gar nicht, wo die ganze Zeit bleibt, wenn nicht beim Schreiben. So aufwendig ist die Beschäftigung mit sich selbst.

Antwort aus Stuttgart. Traumabewältigung sollte im Vordergrund meiner weiteren Behandlung stehen, also vorerst wohl keine Adaption in den Arbeitsmarkt. Das sehe ich ähnlich, zeitlicher Horizont hier liegt bei sechs bis neun Monaten. Traumabehandlung heißt weitere Psychiatrie, wahrscheinlich in Ambulanter Form von zuhause aus. Damit bin ich einverstanden. Obwohl die Krankheit in den letzten zwei Wochen nicht mehr da war, von ein paar milden Schwindelattacken abgesehen, schlummert sie weiter im Unterbewussten. Ich bin gespannt darauf, wie das Gesundheitssystem mit einem therapierten Patienten weiter umgeht. Aber eines ist klar, ich werde zum regulären Termin diese Klinik verlassen und die Weihnachtszeit wohl in Stuttgart überbrücken. Es steht die ambulante Nachsorge an, so wie das Finden einer passenden Selbsthilfegruppe. Damit habe ich es ja schon mal fünfzehn Jahre lang geschafft.

Der Weg zum neuen Markus ist nicht einfach. Es ist ein Prozess, den ich seit zwei Jahren gehe. Meine Beziehungen zu Tochter, Vater und Mutter sind geklärt. Die alte Arbeit ist zurück gelassen, das Trinken und den Drogenkonsum habe ich eingestellt, ein metaphysisches, religiöses Daseins-Motiv habe ich gefunden. Noch hängen ein paar Dinge nach – aber im großen und ganzen habe ich mein altes Leben weitestgehend abgeschlossen. Dieser Bruch hat tiefe Wunden sowohl in meinen Körper wie auch in meine Seele gerissen. Jetzt sind diese Wunden zwar oberflächlich verheilt, aber die Narben schmerzen weiterhin. Es wird Jahre dauern, diesen Schmerz zu überwinden, vielleicht gelingt es nie ganz. Zumindest ohne Medikamente nicht.

Das alles muss ich in Betracht ziehen bei der Gestaltung des neuen Lebens. Gar nicht mal so sehr am äußerlichen Bild, sondern in der inneren Einstellung muss gearbeitet werden. Genügsamer muss ich werden, meine Behinderungen mir selbst eingestehen. Mich selbst ertragen lernen. Dankbar sein für die Momente, in denen die Krankheit nicht da ist. Und aktiv dagegen angehen, sollte ein Schub wieder einmal auftreten.

Ich habe viel nachgedacht über den Wert eines Menschenlebens. Welche Strukturen wir in unserer Gesellschaft gebaut haben, um die Würde des Einzelnen zu schützen. Je mehr ich diese Strukturen kennen lerne, umso mehr lerne ich sie auch schätzen. Im Vergleich mit anderen Staaten stehen wir diesbezüglich gut da, nur wenige Länder tun mehr im Gesundheitssystem als wir. Die Nordeuropäischen Staaten, Skandinavien und Finnland, aber auch Kanada gelten hier als beispielhaft. Aber eines ist ganz klar. Nur in entwickelten westlichen Demokratien haben Menschen mit Erkrankungen wie ich sie habe eine realistische Chance auf Heilung. In vielen Teilen der Welt wäre das gänzlich unmöglich und meine Existenz wäre schon lange nicht mehr.

Ich möchte Dir, liebe Alte Seele vom Alleinsein berichten. Im Kontrast zur Einsamkeit bin ich gerne alleine. Heute geht es mir ausnahmsweise gut. Erst jetzt durch die Abwesenheit der Krankheit verstehe ich, wie gut es tut gesund zu sein. Erst jetzt verstehe ich, wie krank ich eigentlich war. Selbst bei Ankunft hier in der Klinik – kein Vergleich zu dem Menschen, der ich hier werde. Erst jetzt verstehe ich, in welche Tiefen die Krankheiten mich geworfen haben – selbst damals, als nach außen hin so gut wie nichts sichtbar war. Erst jetzt, nach elf Wochen erkenne ich, wie unten ich damals war.

Ganz langsam erst kehrt der Lebenswille zurück, erst langsam baue ich eine Schutzmauer um mein gebrechliches Ich. Erst hier im Klinik-Kokon kann ich mich auf das konzentrieren was kommt und nicht das was ging. Nicht ohne Grund ist dies eine Langzeit-Therapie. Die ablaufenden Prozesse im Hirn brauchen einfach genügend Zeit um Gewohnheiten zu werden. Schließlich nennt sich das auch Entwöhnung. Es sollte aber Gewöhnung heißen – nämlich Gewöhnung an das neue Selbst, das neue Ich, welches die zwangsweise Beschäftigung mit sich selbst mit sich bringt. Man lernt, sich selbst zu ertragen auch und gerade in Zeiten des Leerlaufs und des Alleinseins. Wo früher die Droge der Kumpel war, dem man sich anvertraute, ist es jetzt ein neues Ich, welches man zum Partner macht, ein Ich, welches Jahre oder Jahrzehnte geschlummert hat und von den Umständen unterdrückt wurde.

Ja, ich fühle sogar erstmals so etwas wie Freude aufkommen angesichts des Umstandes, dass jetzt etwas in Reichweite liegt, welches zu den schwierigsten Prüfungen im Leben überhaupt zählt – die Überwindung einer Sucht und deren Begleiterscheinungen Angststörung und Depression. Nicht, dass ich hier Freudensprünge mache, aber die tägliche „saubere“ Routine verbreitet ein warmes, gutes Bauchgefühl und die Erkenntnis, das alles sich zum Besseren neigt, und dass die wirklich tiefen Täler jetzt ein für allemal durchschritten sind.

Ich habe viel gelernt in diesen Tälern der Finsternis. Ich bin bis an die Grenzen gegangen und darüber hinaus. Darüber kann ich erzählen, denn eigentlich sollte ich schon gar nicht mehr sein. Ich hatte mehr Glück als Verstand bei meinen Eskapaden, das muss ich ganz deutlich sagen. Dafür bin ich bescheiden und dankbar. Genauso für die Tatsache, dass ich Dir diese Zeilen schreiben kann. Dass ich nach all den Geschehnissen immer noch in der Lage bin, zu berichten, zu Erzählen wie es in der Finsternis der dunklen Gedankenwelt denn so aussieht.

Das Alleinsein bereitet mir keine Probleme, im Gegenteil, ich möchte niemandem meine Probleme aufhalsen. Einsam fühle ich mich nicht, immerhin habe ich Dich. Einsamkeit kann sehr grausam sein und in den dunkelsten Stunden fühlte ich mich mit meinen Problemen sehr alleine gelassen. Bis ich verstanden habe, dass die Dunkelwelt, in die die Depression führt für andere ja gar nicht zugänglich ist! Kein Wunder ist niemand da, denn niemand kann dir in den Kopf schauen. In das Unterbewusstsein schon gar nicht. Die einzige Kraft, die das schafft, ist die Liebe. Und der Spiegel der Liebe sind die Augen. So sehe ich in den Augen der Menschen ihre Seele so wie sie meine sehen können, wenn ich es denn zulasse. Was viel zu selten geschieht. Zur Liebe gehört aber zunächst auch die Selbstliebe. Auch das musste ich neu lernen, wie so vieles andere auch. Denn nur mit einer gesunden Selbstliebe ist man in der Lage auch andere zu lieben. Wo das Selbstvertrauen fehlt, bleiben die anderen zwangsläufig auf der Strecke. Wie soll ich denn anderen vertrauen, wenn nicht ich mir selbst?

Die andere Krankheit kommt in Schüben oder Wellen. Was wir hier durchgemacht haben in den letzten zwei Jahren war ein tiefes Tal, ausgelöst durch äußere wie innere Umstände. Der „perfekte Sturm“, mit Pandemie, persönlicher Krise und mehreren Gebrechen. Dieser Teufelskreis ist jetzt gebrochen durch das Eremiten-Dasein in fremder Umgebung. Nun gilt es, das neu erworbene Wissen und das neu erstarkende Lebensgefühl auch in den „alten“ Alltag zu überführen und geduldig weise Entscheidungen zu treffen. Ich möchte das „neue Gute“ nicht mehr missen. Auch das ist ein Therapie-Erfolg.

Mein Therapeut hat mir vorgeschlagen, ich solle doch mal meine Muse zu mir nach Hause einladen. Wow, dachte ich, das wäre mutig. Aber Du bist mir jederzeit herzlich willkommen, die Adresse ist ja bekannt.

Wie gesagt, ich bin alleine aber nicht einsam. Darin liegt ein großer Unterschied, zumal die metaphysische Ebene immer stärker wird, je länger der Missbrauch von irgendwelchen Stoffen zurück liegt. Ich war in den letzten Jahren mehrfach im Krankenhaus und mehrfach an der Schwelle zum Tod und jetzt ist mal Schluss damit! Verdammt noch mal. Wenn das Leben schon spielt und mich nicht gehen lässt, dann will ich das Spiel des Lebens frei und unabhängig und zu meinen Regeln spielen. Und nicht abhängig von Substanzen oder anderen Menschen.

Vergleiche mit anderen bleiben nicht aus, sind aber sinnlos. Jeder Mensch ist anders und jedes Leben verläuft anders. Vergleiche sind hohle Hülsen, zumal die Voraussetzungen für ein Leben für jeden anders sind. Gerade darin besteht ja die ungemein wichtige Erkenntnis der Abendlandes, dass jeder nach seiner Facon glücklich werden kann und soll – und eben keine gleichförmigen Schablonen für Menschen existieren. Das es eben keine Autorität gibt, die sich über das Individuum erhebt und ihm vorschreibt, wie er oder sie das Leben zu leben hat.

Inder Vielfalt unterschiedlicher Lebensläufe liegt die Kraft unserer Gesellschaften. Und gerade bei denen, die Hilfe und Orientierung brauchen zeigt sich diese Kraft in Institutionen, die genau dann helfen, wenn der eine oder die andere mal den Weg der Vernunft verlassen haben. Für mich zeigt das den Reichtum einer Gesellschaft mehr an als jedes Bruttosozialprodukt.

Summa summarum für den heutigen Tag stelle ich fest: Es ist etwas passiert in der Therapie. Ein neues Lebensgefühl ist eingekehrt und der alte Schrecken verblasst. Ich möchte das Neue nicht mehr missen und fühle mich gut. So soll es auch bleiben.

Einkaufen. Ein Glücksmoment! Zum ersten Mal seit elf Wochen verspüre ich Glück! Ganz ohne Substanzen oder außergewöhnliche Tätigkeiten. Ich habe es ohne geschafft, einen Glücksmoment zu erzeugen und möchte ihn einfangen, ja konservieren und mitnehmen in die Zukunft. Erst jetzt verspüre ich, wie es ist, nicht krank zu sein! Was für ein Gefühl. Auf Hirn-Ebene heißt das, dass mein Belohnungssystem wieder ohne den Stoff arbeitet. Im Alltag heißt das, dass ich wieder lerne, zu funktionieren. Ich freue mich über mich selbst! Keine Angststörung, keine Panikattacke. Was noch vor zwei Wochen unmöglich erschien, ist jetzt wieder machbar! Ja, so banal es klingt, aber in der Depression war es für mich unmöglich, das Klinikgelände zu verlassen, ohne das sofort eine Panikattacke einsetzte. Und jetzt ist das ein Kinderspiel. Das heißt also auch, dass sich mein Lebensradius wieder vergrößert hat, dass ich Dinge wieder tun kann, die für „normale“ Menschen alltäglich und selbstverständlich sind. Ich weiß im Moment nicht genau, was den Glücksmoment erzeugt hat, aber es hat funktioniert. Ein Merkmal dieser Krankheit ist es ja, dass viele Dinge nur im eigenen Kopf ablaufen. Gute wie schlechte.

Leider kann man Glück nicht in eine Dose packen und für später aufheben. Man muss es nehmen, wie es kommt, wann es kommt und wenn es kommt. Ich jedenfalls bin froh, dass diese Gefühle nach langer Zeit wieder vorhanden sind. Auch das ist ein Therapieerfolg, vielleicht der größte Schritt in ein normales Leben.

Das zukünftige normale Leben sieht definitiv anders aus als das vergangene. Schließlich weiß ich jetzt, was ich habe und wie man damit umgehen muss. Ich habe gelernt, dass diese Krankheit einige Behinderungen ins Leben bringt. Nicht alles wird so funktionieren wie zuvor, vieles muss anders werden. Dafür winkt aber der Pokal eines langfristig zufriedenen Lebens ohne weitere Abstürze und ohne das Chaos von zuvor. Denn vieles, Positives wie Negatives wäre ohne die Droge niemals geschehen. Ungeschehen machen lässt sich auch nichts – und das ist auch gut so. Nur, wer mit der Vergangenheit Frieden geschlossen hat, kann in Zukunft auch ohne die Sorgen des Vergangenen leben.

Ich muss verstehen, dass es diese fürchterliche, heimtückische Krankheit war, die mich Dinge hat tun lassen. Ich muss es zulassen, dass die Krankheit mich an die Schwelle zum Tod und wieder zurück gebracht hat. Ich muss verstehen, dass man die Krankheit noch stoppen kann. Ich muss annehmen, das viele in der Krankheit getroffene Entscheidungen schlecht waren. Ich muss lernen, in Zukunft es besser zu machen. Ohne Gesundheit ist alles nichts. Oh, wie wahr ist dieser Satz. Ob ich jemals wieder ganz gesund werde, steht in den Sternen. Sicherlich wird sich ein anderes Lebensgefühl einstellen, kleiner, bescheidener, konzentrierter aufs Wesentliche. Mit mehr Zeit für sich, mit mehr Denken und fühlen. Mit Sicherheit werde ich nie wieder in ein Karriere-Hamsterrad einsteigen, obwohl auch diese Achterbahnfahrt einige schöne Momente ergeben hat. Aber dafür habe ich nicht die Kraft mehr. Die geistige Entwicklung schreitet fort, und die Tätigkeiten, die man ausübt, sollten mit dieser Entwicklung auch Schritt halten – ansonsten droht wieder Langeweile und die Flucht in die Sucht.

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