Guidos Irrweg

FDP-Chef Guido Westerwelle hat seine auf WELT ONLINE veröffentlichte Kritik an der Hartz-IV-Debatte (lesen Sie den Kommentar hier) bekräftigt. „Die Diskussion über das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat sozialistische Züge.“  http://www.welt.de/politik/deutschland/article6358208/FDP-Chef-Westerwelle-legt-bei-Hartz-IV-Kritik-nach.html

Die Logik dieser Sozialpolitik erschließt sich mir nicht. Die FDP ist gegen Mindestlöhne (ich persönlich nicht), die ein Mindesteinkommen für die Arbeitenden garantieren – gleichzeitig aber beklagt sie den fehlenden Abstand zur Transferleistung. Da ist schlicht ein logischer Fehler im Denken.

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Das BVerfG war in seinem Urteil der Regierung (diesmal) eher wohlgesinnt. Das muss nicht immer so bleiben. Muss man denn wirklich ein Urteil der Verfassungsrichter provozieren, welches den Gesetzgeber zur Erhöhung der Leistungen für jene, die am alleruntersten Ende der Gesellschaft leben, zwingt? Denn genau das impliziert die Forderung, die eh schon zu knapp (siehe Grafik) bemessenen Regelsätze zu kürzen. Die Regierung wäre gut beraten, dieses nicht zu tun.

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Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,677225,00.html

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass man mit Hartz4-Empfänger-Bashing keine Wähler gewinnen kann und halte diese Art der Rhetorik für schädlich für die FDP. Das Klischee der sozialen Kälte wird weiter bedient. Das ist unklug in einer Gesellschaft, in der viele Menschen Angst vor der Arbeitslosigkeit und dem Abrutschen in Hartz4 haben. Das permanente Abwerten von Hilfe-Empfängern ist falsch. Denn viele von ihnen sind das nicht freiwillig geworden.

Doch hilft Westerwelles Wüten über den deutschen Sozialstaat auch seiner Partei? SPIEGEL ONLINE hat bei führenden Meinungsforschern nachgefragt. Das Ergebnis: Die Experten warnen den FDP-Chef, sein Krawallkurs könnte für die Partei mit einer Bruchlandung enden. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,677950,00.html

Übrigens: Deutschland rangiert in den Transferleistungen für Familien im oberen Mittelfeld der OECD und ist keinesfalls an der Spitze. Dort sind nach wie vor Staaten wie Norwegen, Finnland, Schweden und Dänemark.

Liberalismus und Sozialstaatsdenken schließen sich nicht aus*. Die Würde des Menschen darf nicht an seinem Wert am Arbeitsmarkt bemessen werden! Würde ist keine moralische Kategorie, sie aufrecht zu erhalten ist immer Aufgabe aller.

  • „Liberalismus nimmt Partei für Menschenwürde durch Selbstbestimmung“
  • „Liberalismus nimmt Partei für Fortschritt durch Vernunft“
  • „Liberalismus fordert Demokratisierung der Gesellschaft“
  • „Liberalismus fordert Reform des Kapitalismus“

Freiheit bedeutet für den modernen Liberalismus, wie er bei John Stewart Mill in England und bei  Friedrich Naumann in Deutschland erstmals in Gedanken gefaßt ist, nicht länger die Freiheit eines  aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staate“ entgegengesetzten autonomen Individuums,  sondern die Freiheit jenes autonomen und sozialen Individuums, wie es als immer zugleich  einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt. Freiheit und Glück des Menschen sind für einen solchen Sozialen Liberalismus danach nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte. Nicht nur auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es ihm an.

http://de.wikipedia.org/wiki/Freiburger_Thesen

In einer modernen Wohlstandsgesellschaft, wie es unsere ist, markiert das Existenzminimum das untere Ende der Wohlstandsskala. Alle freiheitliche Entfaltung geschieht AUF diesem Fundament – der moderne Liberalismus wirkt erst AB diesem Niveau. Je höher dieses ist, desto einfacher wird es für den einzelnen, sich den Anforderungen der Produktivgesellschaft anzuschließen. Es ist hingegen wenig sinnvoll, Menschen zur Arbeit zwingen zu wollen, wenn es durch die wachsende Produktivität zu wenig Arbeit in einer Gesellschaft gibt.

Frei sein kann nur, wer dazu die materielle und geistige Grundlage hat – ein hohes Sozialniveau nützt letztendlich der gesamten Gesellschaft. Wenn wir das Sozialniveau hingegen weiter senken, schieben wir damit noch mehr Menschen ins gesellschaftliche Abseits und behindern weiter unsere Entwicklung als Ganzes. Erhaltung der Menschenwürde setzt aber auch Aufklärung voraus. Darum sind normative Eingriffe in die Art der Förderung (z.B. durch Gutscheinmodelle) auch legitim. Zwingen sollte man niemanden. Aber lenken durchaus.

Das Denken in den aktuellen Kategorien der Staatsfinanzierung ist schlicht veraltet. Neues Denken ist notwendig – auch in der Einnahmengenerierung für die Gemeinschaft. Der Gesetzgeber muss sich auf den Sinn der Besteuerung besinnen – unerwünschtes, schädliches Verhalten von Individuen oder Gesellschaften zu sanktionieren – dazu gehören meines Erachtens Finanzspekulationen genauso wie Hedge-Fonds, ungesunde Ernährungsweisen ebenso wie Genussmittelmissbrauch. Beispiele für neues Denken könnten sein:

  • Für Transaktionssteuern auf spekulative Finanzgeschäfte
  • Für Besteuerung von Fastfood und Softdrinks
  • Für Erhöhung von Steuern auf legale Drogen wie Alkohol und Nikotin
  • Für Beteiligung der Kapitalerträge an Sozialkosten

In einer automatisierten Dienstleistungsgesellschaft den Faktor Arbeit immer weiter zu schröpfen, ist schlicht unsinnig. Da hat Westerwelle recht. Zumal die Menge an adäquat bezahlter, marktfähiger menschlicher Arbeit immer weiter abnimmt. Richtig ist es hingegen, alle(!) Arten von Wertschöpfung an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Eine moderne Dienstleistungsgesellschaft MUSS sich anders finanzieren als eine Produktionsgesellschaft – ansonsten ist der Aufwand, der für die Pflege und den Unterhalt der größer werdenden Masse an Menschen, die nicht produktiv wirksam tätig sein können (weil sie zu alt sind, oder weil ihnen aufgrund des versagenden Bildungssystems das notwendige Wissen fehlt) nicht leistbar.

Sugar, rum, and tobacco are commodities which are nowhere necessaries of life, which are become objects of almost universal consumption, and which are therefore extremely proper subjects of taxation. (Adam Smith, The Wealth of Nations, Book V,3 Of public Debts, 1776)

Das Modell der Produktionsgesellschaft des 20. Jahrhunderts läuft aus – und damit die traditionelle Vorstellung von Dauer-Vollzeit-Arbeitsplätzen. Damit einher geht zusätzlich die Ablösung der Arbeitsethik eben desselben Jahrhunderts. Das ist in der Debatte nicht angekommen. Reflexartig geht der Griff zu altbewährten Forderungen, die keine Lösung der aktuellen Probleme beinhalten. Alles bleibt, wie es ist. Und der Staat verschuldet sich immer weiter.

Die Wirtschaftsliberalen haben keine Lösung für den demographischen Wandel. Sie haben keine Antwort auf die Bildungslücken unterer Schichten. Sie setzen auf korporative Steuerungsinstrumente, die nachweislich versagen. Sie negieren jedes Marktversagen inmitten der größten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Darum ist reiner Wirtschaftsliberalismus NIE genug.

Darum müssen wir Wege finden, das Kapital mehr an sozialen Aufgaben zu beteiligen. Die Schweiz macht es vor: Dort bezahlen Kapitalerträge Krankenkassenbeiträge. Das ist der Weg zu einer modernen Sozialpolitik. Wir müssen uns von der Illusion der „Voll“beschäftigung genauso endgültig verabschieden wie von der Idee, Sozialsysteme über den Arbeitsmarkt finanzieren zu wollen. Dafür ist es schon zu spät.

Ich finde es löblich, dass Herr Westerwelle an die Friseurin/Verkäuferin/Kellnerin denkt. Doch eine Antwort darauf, wie ihre Arbeit so wertvoll werden könnte, dass sie in Zukunft von ihrem Lohn leben kann, findet er nicht. Wir müssen einsehen, dass es Arbeiten gibt, für die keine marktgerechten Preise gezahlt werden können. Auf Dauer bleiben der Gemeinschaft da nur zwei Möglichkeiten: Dauersubventionierung von ganzen Branchen durch Kombimodelle und somit eine Unterwanderung der Marktwirtschaft durch den Staat – oder die Sanierung ganzer Branchen durch das Einziehen einer Untergrenze für den Wert menschlicher Arbeit.

Es wäre gut, die Regierung täte dies. Bevor das Bundesverfassungsgericht sie dazu zwingt.

„So viel ist sicher, daß der Liberalismus als Gesamterscheinung zu Ende ist, wenn er gegenüber der Macht des Großbetriebes aus Furcht oder Mangel eines neuen freiheitlichen Gedankens sich tatenlos und programmlos zurückzieht“ (Friedrich Naumann).

(Der Autor ist seit über zehn Jahren alleinerziehender Vater ohne jede staatliche Unterstützung.)

*Eine als „Sozialliberalismus“ zu bezeichnende Strömung lässt sich in Deutschland etwa ab den 1840er Jahren beobachten. Mit der 1948 gegründeten FDP gelang erstmals die Schaffung einer das gesamte liberale Spektrum umfassenden Partei. In der Anfangsphase differierte die politische Ausrichtung der Landesverbände teilweise erheblich, wobei linksliberale Traditionen vor allem in Baden-Württemberg und den Stadtstaaten Hamburg und Bremen vorherrschten, während sich besonders in Nordrhein-Westfalen und Hessen starke nationalliberale Tendenzen zeigten.

Mehr zur Tradition der FDP/DVP in Baden-Württemberg: Die Demokratische Volkspartei oder auch Württembergische Volkspartei ging in den Jahren von 1863 bis 1866 unter Führung von Karl Mayer, Julius Haußmann und Ludwig Pfau aus der Fortschrittspartei im Königreich Württemberg hervor und war der Zusammenschluss vieler demokratischer Revolutionäre von 1848. Sie war lange Zeit die bestimmende politische Kraft im „Ländle“. Am 6. Januar 1946 wurde die Demokratische Volkspartei, mit der Abkürzung DVP, von liberalen Persönlichkeiten wie Theodor Heuss und Reinhold Maier in Stuttgart neu gegründet. Die Partei knüpfte dabei ausdrücklich an die (linksliberale) Tradition der DDP und der VP vor 1918 an. http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratische_Volkspartei

1 Anmerkung zu “Guidos Irrweg

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