Enttäuschung Europa

UPDATE 7.10. Spiegel Online zum Thema: Debatte um Lissabon-Vertrag: Mehr Europa wagen!

„Schmeißt die ‚Irren‘ aus der Union“, so hätte die Überschrift für diesen Artikel lauten können, hätten die Iren abermals den Lissabon-Vertrag abgelehnt. Dazu ist es nicht gekommen. Aber dennoch enthält die, zugegebenermaßen stammtischsartige, Formulierung noch immer einen Kern Wahrheit.

Erst meinten drei Millionen Menschen, sie müssten 497 Millionen an der Nase herumführen. Und nun sitzt ein alter Mann in Prag ganz alleine gegen 500 Millionen EU-Bürger. Das ist ein Witz. Oder, nein, es ist eine Tragödie.

Die Tatsache, dass die Union keine echte Verfassung für sich und ihre Bürger zustande bringt, zeigt recht anschaulich den Zustand des Projektes Europa. Was zügig, hoffnungsvoll und mit klarem Friedensauftrag begann, hat sich zu einem Club der lahmen Schwätzer totgelaufen.

Die Europäische Union ist mit voller Kraft dabei, ihre weltpolitisch einmalige Chance zur Supermacht aufzusteigen, zu verspielen. Und das nicht aus Bedrohung von außen – nein, Kleinkariertheit und Reformresistenz gepaart mit illegitimer Lobbyistenherrschaft verhindern die Weiterentwicklung des Kontinents zu einer echten politischen Einheit.

Noch vor fünf Jahren glaubte ich an die Idee eines vereinten Europa. Grenzen wurden geöffnet, Barrieren zwischen Staaten beseitigt, Reformen begonnen, der Binnenmarkt vervollständigt und die Gemeinschaftswährung eingeführt. Das war alles gut und richtig.

Doch dann verließ die europäische politische Elite der Mut – im letzten Erweiterungszug hat man die Vernunft vergessen und zu ängstlich gehandelt. Man hätte die Verfassung vor den Beitritten der letzten Runde einführen müssen. Ohne wenn und aber. Jeder, der dann dazugekommen wäre, hätte sich klaren Regeln fügen müssen. Das geschah nicht, und so haben wir jetzt den Salat: Anstelle einer funktionierenden Union ein Sammelsurium von Einzel-Interessen, Pleite-Staaten, schwächelnden Währungen, politischen Systemen und Rechtsordnungen.

Auch der mühsam ausgehandelte Kompromiss aus Lissabon kann da wenig helfen. Er ist nicht nur zweite, nein er ist dritte oder vierte Wahl. Schon der Konvent war ein Kompromiss; was wir jetzt haben, erfüllt noch nicht einmal die Mindestanforderungen für eine echte Staatsgrundlage.

Die EU wird bei ihren Bürgern zunehmend unbeliebt – kein Wunder! Die Organe der Union sind intransparent, ineffizient, teuer und schlecht legitimiert. Europawahlen sind unpopulär – uns so zersetzt sich das an sich sinnvolle Europa-Parlament zunehmend selbst; weil immer mehr europafeindliche und populistische Gruppen Sitze im Parlament erlangen.

Europa hat es nicht geschafft, seine immense Wichtigkeit im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Die Union hat es auf eklatante Weise vermasselt, die einfachsten Dinge für ihre eigene Glaubwürdigkeit zu schaffen:

  • Es gibt keinen direkt gewählten europäischen Präsidenten. Somit hat die Union keine identitätsstiftende, vom Volk legitimierte Person an der Spitze.
  • Es gibt keine europäische Staatsbürgerschaft, die die nationale zunächst ergänzen und später ersetzen könnte – somit wird auch keine europäische Identität der Bürger geschaffen.
  • Es gibt keine legitime europäische Exekutive – stattdessen gibt es eine undemokratische Kommission, deren Zusammensetzung kein Bürger versteht und deren Kommissare für Lobbyisten und Korruption anfällig sind.
  • Es gibt keine europäische Steuerhoheit, somit auch keinen ordentlichen Haushalt und keine parlamentarische Kontrolle. Stattdessen gibt es eine undurchsichtige Subventionspolitik mit erschreckenden Auswirkungen (Milchseen, Butterberge etc.)
  • Die EU tritt mehrheitlich als Verbotsorgan auf (Bsp. Glübirnen), was in der Bevölkerung die schon vorhandenen Vorurteile gegenüber Brüssel noch stärkt.
  • Es gibt keine gemeinsame europäische Amtssprache, somit wird die Kommunikation zwischen den Staaten unnötig erschwert und die Verständigung zwischen den Völkern behindert.
  • Es gibt für die neutralen Staaten außerhalb der NATO keine europäischen Sicherheitsgarantien – niemand weiß, wie die EU im Krisenfall reagieren kann oder wird.
  • Es gibt keine europäischen Streitkräfte – anstelle Dutzende teure, inkompatible Armeen.
  • Die Finanzierung der EU ist ungerecht verteilt. Immer noch herrscht im Brüssel das Märchen vom reichen Deutschen. Die Zeit ist lange vorbei. Die Leistung nach BIP zeigt das.
  • Es gibt keine europäische Bildungs-, Arbeitsmarkt-, oder Sozialpolitik. Somit ist die Union aus dem täglichen Leben ihrer Bürger viel zu weit entfernt.

Das sind nur ein paar Punkte, die das Scheitern der EU in der jetzigen Form dokumentieren. Viel schwerwiegender wiegt jedoch ein tiefer liegender Makel der Union:

  • Europa hat keine grundlegende Staatsidee.

Wo die USA auf Freiheit und Unabhängigkeit von Obrigkeiten gebaut sind, fehlt Europa ein klares Bekenntnis zu dem Gemeinwesen, welches wir eigentlich schaffen woll(t)en.

Daran sind bestimmt nicht die Liberalen schuld: Es fällt mir relativ leicht, für einen ordentlichen europäischen Bundesstaat, der auf den Idealen des freien Bürgertums der französischen Revolution begründet ist, zu plädieren. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Warum denn das nicht das als Staats-Idee? Gepaart mit einem klar abgegrenzten Verständnis des europäischen Kulturraumes – mit den Grundlagen Humanismus, Aufklärung, Demokratie, Industrialisierung. Und, natürlich, Säkularismus! In einem modernen Bundesstaat sollten religiöse Fanatiker, egal welcher Couleur, nichts zu suchen haben.

Ich glaube nicht mehr an die Erfüllung dieses Traumes vom „Freien, einen Europa“. Zu schwammig ist die Politik der Union geworden, zu schwach und zerstritten die großen Player in der Gemeinschaft. Anstelle eines modernen Föderalismus werden immer lockerere Bindungen etabliert – man einigt sich weder auf eine gemeinsame Krisenbewältigung noch auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, oder gar auf eine einheitliche Steuerpolitik. Stattdessen veranstaltet man sinnlose Kulissenschieberei auf Staatskosten – egal ob in Heiligendamm, Straßbourg oder Baden-Baden.

Das Europa nach dem Lissabonner Vertrag wird viel schlechte Presse bekommen, denn es wird das Europa der Verbote werden – es wird z.B. den Iren die Hunderennen, den Spaniern den Stierkampf und den Finnen das Teer nehmen und den Deutschen das Tempolimit bringen. Ob die Völker das nun wollen oder nicht – mit EU-Mehrheitsentscheidungen und ohne ausreichende parlamentarische Einspruchsmöglichkeiten wird alles möglich.

So droht aus dem Traum einer demokratischen europäischen Großmacht eine instabile Bürokratie zu werden, unbeliebt, von Spannungen zersetzt und zur politischen Aktion unfähig. Keine guten Vorzeichen, auch angesichts der sich anbahnenden atomaren Krisen weltweit.

Wir haben eine große Chance vertan und keinen europäischen Staat gebaut. Das war ein Fehler. Solange die Union es nicht einmal schafft, eine offizielle Hymne einzuführen, oder eine Flagge, auf der jedes Mitglied einen eigenen Stern bekommt – solange wird sie es nicht im Ansatz schaffen, die oben skizzierten Missstände anzugehen. So werden immer weniger Bürger an die Union glauben und sich Alternativen suchen. Und das wiederum ist Gift für eine Gemeinschaft in einer globalisierten Welt.

Das Traurigste an der Geschichte ist aber die Tatsache, dass wir alles Notwendige zur Entwicklung Europas schon längst wissen, es aber nicht schaffen, es an die Menschen im Lande auch zu kommunizieren. No, we can’t.

Debatte um Lissabon-Vertrag

Mehr Europa wagen!

1 Anmerkung zu “Enttäuschung Europa

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