Die spinnen, die US-Demokraten

Update 5.2.: Ich habe diesen Artikel selbstverständlich nicht ohne Bezug auf die aktuelle Lage in der deutschen Politik verfasst. Auch bei uns droht, die Mehrheit für Schwarz-Gelb im Bundesrat bei der NRW-Wahl verloren zu gehen, was ähnliche Zustände in unseren Parlamentskammern herbeiführen könnte und so zentrale Reformvorhaben der Regierung erheblich erschweren würde. Und letztendlich leidet auch die FDP unter dem „Obama-Syndrom“: gelungene Kampagne, gewonnene Wahl, große Reden – und kaum verwertbare Ergebnisse.

Warum alleine die Demokratische Partei entscheidet, ob die Gesundheitsreform in den USA stattfindet.

http://s3.moveon.org/images/final_backbone_graphic.jpgAmerikanische Politik kann manchmal ganz schön verwirrend sein. Nicht nur das für uns etwas befremdlich wirkende Mehrheitswahlrecht und das daraus resultierende Zweiparteiensystem wirkt seltsam, auch die Eigenarten der Funktionsweise des Zweikammerparlaments zeigen Irrungen und Wirrungen, die die deutsche Presse nicht und der deutsche Leser schon gar nicht kapiert.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle ein wenig zur Aufklärung beitragen. Und gleichzeitig mit einigen Mythen der deutschen Berichterstattung über die USA aufräumen. Konkret mache ich dies am Beispiel der Reform der Krankenversicherung in den USA, die ja in den letzten Monaten heftigst diskutiert wurde.

Zum einen gibt es im US-Parlament (genannt der Kongress) zwei Kammern: Das Repräsentantenhaus und der Senat. Im „House“ sitzen 435 Abgeordnete, die nach Bevölkerungszahlen der einzelnen Staaten gewichtet sind, im Senat hingegen ist jeder Bundesstaat mit zwei Senatoren vertreten, also insgesamt gibt es 100 Senatoren. Die Gesetzesinitiativen für Bundesgesetze in den Vereinigten Staaten können nur vom Kongress ausgehen. Dabei hat das „House“ die alleinige Kompetenz in Steuerangelegenheiten. Der Senat muss allen Bundesgesetzen zustimmen, kann aber auch eigene Initiativen starten. Vorschläge für neue Gesetze können von jedem Mitglied einer der beiden Kammern oder einem der Delegierten eingebracht werden. Die Bearbeitung findet in den Ausschüssen, den sog. Committees statt.

Jeder Gesetzesvorschlag muss identisch von beiden Kammern verabschiedet werden. Dazu übermittelt der Vorsitzende einer Kammer den fertigen Gesetzesentwurf an die andere Kammer. In dieser „zweiten Bearbeitung“ wird der gleiche Vorgang wie oben beschrieben noch einmal durchlaufen. Nachdem beide Kammern den Gesetzesentwurf verabschiedet haben, wird überprüft, ob etwaige Änderungsvorschläge in der zweiten Kammer von denen der ersten Kammer abweichen. Sollte dies der Fall sein und die erste Kammer diese Änderungen ablehnen, wird ein Conference Committee (Vermittlungsausschuss) angerufen. Dieser besteht aus einer gleich hohen Anzahl von Abgeordneten und Senatoren und versucht nun, die beiden Fassungen zu vereinen. Danach müssen beide Kammern noch einmal über die endgültige Fassung abstimmen. Nachdem der Entwurf von beiden Kammern verabschiedet wurde, wird dieser dem Präsidenten übermittelt. Dieser kann das Gesetz annehmen oder per Veto ablehnen. Das Veto wiederum kann mit Zweidrittelmehrheit beider Kammern überstimmt werden. (Siehe auch Gesetzgebungsverfahren Vereinigte_Staaten)

Genau nach diesem Schema wurde von der demokratischen Mehrheit im „House“ am 8. November 2009 der America?s Affordable Health Choices Act of 2009 verabschiedet. Das ist der Gesetzentwurf der Demokraten, in dem Präsident Obamas Pläne eingearbeitet sind. Parallel dazu verabschiedete der Senat am 24. Dezember 2009 den Patient Protection and Affordable Care Act mit der bemerkenswerten Mehrheit von 60 zu 39 Senatorenstimmen. Das ist die Senatfassung des obigen Gesetzes. Beide sind, wohlgemerkt, von der selben Partei! Aber in unterschiedlicher Fassung. Beide Fassungen sind umfangreiche Werke, mit mehreren tausend Seiten Gesetzestext.

Und genau hier liegt eine der Gründe für die Ablehnung der Reform in der US-Öffentlichkeit: Nicht so sehr die Reform an sich wird abgelehnt, sondern die Art, wie sie zustandegekommen ist – und die Art, in der das Vorhaben formuliert wurde. Anstelle von einfachen Sätzen beinhalten beide Entwürfe Endlos-Gesetzprosa – etwas, was wir auch aus deutschen neueren Gesetzen kennen. Hier wiederum stellt sich eine Fundamentalkritik der modernen Demokratie ein – immer weniger Bürger haben das Gefühl, ihre Anliegen von der Politik gerecht behandelt zu bekommen – anstelle von Einfachheit gibt es immer weitere Verkomplizierung (siehe die Debatte um die Hotel-MwSt.!). Immer weniger schafft es die Bürokratie, legislative Sachverhalte zu kommunizieren. Das gilt für die USA wie für uns.

Im „House“ gibt es eine strikte Redezeitbeschränkung, im Senat hingegen kann jeder Senator beliebig lange zu einem Thema reden. Dies wurde als Taktik zur Verschleppung von Abstimmungen benutzt und ist unter dem Namen „Filibustering“ bekannt geworden.

Und nun wird es richtig wichtig! Beide Kammern benötigen zur Beschlussfassung einfache Mehrheiten. Die Demokratische Partei stellt Anfang 2010 257 von 435 Abgeordneten im „House“ (59%) und im Senat 60 von 100 Senatoren (60%). Dabei sind zwei Senatoren offiziell unabhängig, stimmen jedoch i.d.R. mit dem Demokraten. Die Demokratische Partei hat also in beiden Parlamentskammern eine satte Mehrheit und stellt zudem den Präsidenten.

Und dennoch kommt kein Gesetz zur Reform des Gesundheitssystems zustande. Warum? Die Regel des Filibustering besagt, dass man 60 Senatorenstimmen benötigt, um die Redezeit im Senat zu beschränken und somit die Verzögerungstaktik zu verhindern. Diese Mehrheit hat die Demokratische Partei mit der Nachwahl des Senators aus Massachusetts am 19. Januar 2010 verloren. Der Republikaner Scott Brown wurde als Nachfolger des demokratischen Senators Edward Kennedy gewählt. Die Demokraten stellen nun also 59 Senatoren und können keinen Filibuster mehr verhindern.

Die amerikanische und auch die deutsche Presse, allen voran der Rechtssender FOX-News, aber auch der moderate CNN, folgern daraus, dass die Gesundheitsreform Obamas gescheitert sei. Das wurde und wird so auch in allen Mainstream-Medien Deutschlands verbreitet.

Doch wie der US-Amerikanische Autor Barry Eisler in seinem Blog („Artikel: Democratic Crybabies“) so passend schreibt: Die komplette Regel des Filibustering kann mit einfacher Senatsmehrheit, also mit 50(!) Stimmen abgeschafft werden!

Ja, Sie lesen richtig. Die Demokraten können jederzeit die sie selbst lähmende Regel mit ihrer Senatsmehrheit einfach abschaffen und die Gesundheitsreform in Kraft treten lassen. Sie könnten aber auch einfach den Senatsentwurf im „House“ beschließen. Dann wäre der Gesetz.

„If the Democrats wanted to pass health care reform, or anything else, they could do it today. Any time they wanted, with a simple majority vote, they could end the filibuster rule that enables Republicans to block legislation.“ http://www.barryeisler.com/blog.html

Das ganze Drama um diese Gesundheitsreform ist nur von den Demokraten selbst inszenierter Theaterdonner! Wenn ihnen die Sache so wichtig ist, werden sie die geeigneten Maßnahmen treffen und ihre Reform auch durchboxen, auch wenn das Änderungen an den prozeduralen Regeln erfordert.

Technisch wäre zwar die Änderung der Geschäftsordnung des Senats ihrerseits der Endlosdebatte unterworfen und eine Zweidrittelmehrheit der Anwesenden Senatoren notwendig, um diese zu beenden. Aber es besteht die Möglichkeit, die sog. Nukleare Option anzuwenden, bei der der Präsident des Senats, heute wäre das bei einer wichtigen Debatte Vizepräsident Joe Biden, die Verfassungmäßigkeit der Debatte per Geschäftsordnungsantrag infrage stellt und zur sofortigen Abstimmung bringt. Oder der Senat bedient sich einer Verfahrenstaktik namens „reconciliation„, wobei der Senat sich die Sonderrechte des Houses in Sachen Steuerrecht zunutze macht und so die 60-Stimmen-Hürde umgeht.

(Links: Siehe Fox hier und hier, der Ablauf genauer hier, Schilderung der Taktik hier und des inflationären Filibusterings hier. Allerdings kommen auch die US-Medien schon mal durcheinander, wenn es um die Begriffe geht, siehe z.B. Fox hier.)

Barry Eisler:

This is so simple, it’s useful to break it down the way a child might approach it.
Democratic Senator: Sorry, little girl, we can’t pass health care reform without 60 votes.
Child: In school they taught us there only 100 Senators. So don’t you need only 50 votes?
Dem: Yes, but there’s a Senate rule that allows the minority party to do something called a „filibuster,“ and when they do, the majority party needs 60 votes to overcome it. Filibusters used to be rare, but now the Republicans do one for every bill we try to pass. Those meanies.
Child: Well, where did the rule come from?
Dem: The Senate passed it.
Child: By a majority vote? I mean, 50 Senators?
Dem: Yes.
Child: Then don’t you need only 50 Senators to repeal it?
Dem: Huh?
Child: I mean, if you think Republicans are meanies who aren’t being fair about the rule, why don’t you just change the rule?
Dem: That would make the Republicans really mad!
Child: So you’re afraid of them?
Dem: Of course not!
Child: Then why don’t you change the rule?
[Silence]

Für uns Koalitionsdemokraten wirkt diese Art, Politik zu machen einigermaßen befremdlich – wie oft wurden bei uns schon große Gesetze mit nur wenigen Stimmen Mehrheit durch Parlamente gejagt – ohne Netz und doppelten Boden. Würde bei uns eine Koalition auf ein Gesetz verzichten, nur um eine Geschäftsordnung nicht ändern zu müssen, weil der politische Gegner eventuell in Zukunft dieselbe Änderung gegen einen verwenden könnte? Nein. Bei uns ändert man dafür schon mal die Verfassung höchstselbst, wenn man dazu nur die Stimmen hat.

Man kann aus der Debatte zweierlei lernen: 1. Wenn historische Mehrheiten da sind, muss man sie umgehend und umfassend nutzen und darf eben nicht auf parteipolitisches Klein-Klein zurückfallen, und 2. auch politische Institutionen dürfen im Laufe der Zeit nicht statisch verharren, vor allem in ihren prozeduralen Strukturen nicht. Sonst werden sie zu lähmenden Strukturen.

Wenn die US-Demokraten es nicht schaffen, diese Reform zu machen, mit all ihren Mehrheiten und Möglichkeiten; wenn sie lieber am alten, starren Regelsystem festhalten als ihren politischen Inhalt durchzusetzen – dann sollen sie (und sie werden es auch) die Wahlen im November, bei der das House und ein Drittel des Senats neu gewählt werden, verlieren.  Denn alleine die Demokraten und Obama haben es in der Hand, ob die Politik des „Change“ mehr ist, als nur reine Wahlkampfrhetorik.

Ich bin mal gespannt, ob die Demokratische Partei ihrem Präsidenten folgt oder ob das System Washington Obamas Reform einfach zerreibt. Das wäre das Ende des „Change“ und „Hope“ und eröffnete eine klaffende Lücke der (eh schon stark wachsenden) Politikverdrossenheit in den USA und damit vom großen Geld gesteuerten Demagogen Tür und Tor.

So blöd können die Demokraten nicht sein. Oder?

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