Die Schönheit und die Weisheit

Es trafen sich, zufällig könnte man sagen, eines Tages die Schönheit und die Weisheit in den heiligen Hallen der Götter des Unendlichen und begannen, eher beiläufig, ein oberflächliches Gespräch.

“Sei gegrüßt, Weisheit, sagte die Schönheit. “Schau, ich bin groß geworden. Ich streue mich unter die Menschen und die Menschen folgen mir. Schau wie sie ihre Städte bauen, ihre Schlösser. Wie sie ihre Gemälde malen, ihre Gedichte schreiben, wie sie komponieren und ihre Lieder singen, wie sie mich genießen und für mich. Schau, ich habe die Menschen glücklich gemacht, wahrlich.”

Die Schönheit steigerte sich in ihre Begeisterung hinein und erreichte schließlich ihre ach so bekannte Selbstüberschätzung.

Die Weisheit aber schwieg.

“Ja, und mehr noch”, kreischte die Schönheit weiter, “schau wie sie mir Paläste bauen, ganze Tempel, wie sie mich anbeten, wie sie sich für mich opfern und hingeben, wie sie sich mir gleich machen! Großartig, nicht wahr, liebes Schwesterchen? Die Welt ist ein viel besserer Ort geworden. Wegen mir.”, sagte sie, jetzt mit ein wenig Ungeduld in ihrer Stimme, deren leichtes Zittern die Erwartung einer Antwort ihrer Schwester anmahnte.

Aber die Weisheit schwieg.

“Du glaubst mir nicht”, sagte die Schönheit enttäuscht. “Na gut. Komm mit, wir wollen uns die Menschen anschauen!”, meinte sie schnippisch und zerrte die Weisheit auf den Balkon des Heiligen Tempels, von dem man die Menschen gar vortrefflich in ihren Geschäften beobachten konnte.

“Nun schau mal”, sagte die Schönheit und streckte ihre anmutige Hand aus, ja mit einer scheinbar einfachen und leichten Bewegung ihres Armes schien sie Funken ihrer selbst in die Masse der emsigen Menschen zu streuen, zu säen in die Leute ihres, der Schönheit, Daseins köstliche Frucht.

Das Volk fuhr voll Entzückung zusammen und dankte lobpreisend für das himmlische Geschenk.

“Schau jetzt ganz genau hin”, sagte die Schönheit euphorisch, “sogleich werden sie zu mir beten”. Und tatsächlich, bald schon hörte man auf dem Balkon des Heiligen Tempels die ersten Dankesrufe und wünschenden Gebete der Menschen.

“Siehst du jetzt?”, fragte die Schönheit. “Ich bin groß geworden. Ich bin die Schönheit! Die Größte! Sie beten mich an. Ich bin Gott!”, sagte die Schönheit strahlend vor übermütigem Glück.

Die Weisheit betrachtete ihre Schwester mit Argwohn. “Bist du dir sicher?”, meinte sie vorsichtig und leise.

“Wie kannst du nur eine so dumme Frage stellen! Du, die vermeintlich immer alles besser weiß, du, Vaters ewige Favoritin?”, antwortete die Schönheit sichtlich verärgert.

“Nein, liebstes Schwesterchen, ich habe endlich gewonnen! Schau sie dir doch an! Sieh doch ihre Kostüme, ihre Schminke, ihre Bilder! Siehst du sie, in sich selbst? Sie wollen so sein wie ich, sie wollen ein Teil von mir werden! Das ist mein großer, später Triumph!

“Gut, liebe Schwester”, sagte die Weisheit bestimmt. “Ich habe verstanden. Du hast also gewonnen. Ich ziehe mich zurück, du brauchst mich nicht mehr.”

Die Weisheit atmete tief und sammelte alles von sich in sich mit diesem Atemzug.

“Es ist spät, liebe Schwester”, sagte sie mit leiser, ernster Stimme, “Ich bin müde und lege mich zur Ruhe. Gute Nacht, Schwester, schlaf gut. Und bitte vergiss nicht, dass ich dich liebe. Genau wie Vater das tut. Du brauchst niemandem etwas beweisen. Aber sei‘s drum. Gute Nacht, Schwester”, meinte sie und hauchte der Schönheit einen Kuss auf die Wange, so schnell, dass die Schönheit ihn nicht abzuwehren vermochte und schwebte leise und schnell davon.

(am nächsten Morgen)

“Schwester, oh Schwester, wo bist du? Komm schnell, ich brauche deine Hilfe!”, schrie die Schönheit durch die weiten, leeren Gänge des Heiligen Tempels und weckte mit ihrer hellen, aufgeregten Stimme die noch schlafende Weisheit. “Es ist etwas ganz Schreckliches geschehen!”

“Guten Morgen, geliebte Schwester, nun beruhige dich doch”, antwortete die Weisheit und wischte den Schlaf aus ihren schönen, ruhigen und gütigen Augen. “Was ist denn geschehen?”

“Die Menschen!”, schluchzte die Schönheit mit Tränen in ihren Augen, “komm, schnell, sie reißen alles nieder! Sie zerstören alles, die Statuen, die Gemälde, die Häuser, sie verbrennen die Bücher, die Gedichte, die Paläste, sie zerreisen sich, morden, vergewaltigen und bekriegen einander! All meine gestrige Macht ist dahin! Hilf mir, oh Schwester! Bitte, komm und schau sie dir an!”

“So schnell?”, fragte die Weisheit und mit schnellem Gang schritten die beiden Geschwister auf den Balkon des Heiligen Tempels, von dem man die Menschen so vortrefflich beobachten konnte.

“Tatsächlich”, sagte die Weisheit. Jetzt hellwach und aufmerksam zeigte sie ihren eigenen, tiefen und starken Glanz in ihren wissenden Augen. “Die Menschen zerstören ihre Welt in ihrem eigenen Wahn.”

“Jetzt hör mal genau zu, liebe Schwester”, sagte sie mit scharfer, schnittiger Stimme, ergriff die Schönheit mit festem Griff an deren Schultern und schaute mit hartem Blick in die großen gütigen Augen ihrer Schwester.

“Warum tun sie das?”, fragte die Schönheit schluchzend.

“Vielleicht brauchen sie mich genauso wie dich”, erwiderte die Weisheit. “Sie sehen dich, dein Funkeln und deinen Glanz, dein Strahlen und deinen Adel. Sie glauben an dich, Schwester.

Und nur wenige unter ihnen wissen über mich. Aber dennoch bin auch ich unter ihnen und wirke, still und leise, fast unsichtbar.

Manche von uns müssen eben nicht strahlen und Funken sprühen und ständig allen sichtbar sein. Dennoch aber werden wir gebraucht”, sagte die Weisheit und gab sich selbst mit einem tiefem, himmlischem Blick wieder zurück unter die rasenden Menschen.

“Morgen wird alles vorbei sein, alles wird so sein wie vorher. Sorge Dich nicht, liebe Schwester. Schau, so ist es nun mal:

Wenn Du Gott bist, dann bin ich das Auge mit dem sie Dich sehen können.

Dich gibt es nicht ohne mich. Und umgekehrt! Das ist Vaters Wille. Wir sind einander Bedingung, und nur gemeinsam können wir den Menschen wahres Glück bringen.”

“Bitte lerne etwas hieraus. Unterschätze die Leisen nicht. Denn sie wirken und strahlen wie Du, wenn auch nur wenige sie sehen können.”

“Danke, liebste Schwester”, sagte die Schönheit und zeigte in ihren lebhaften Augen schon wieder die ersten Funken ihres Gebens sprühen.

“Nun gehe zu Vater”, sagte die Weisheit, “er wartet auf dich. Er wird dich belohnen, denn du hast viel Gutes für die Menschen getan”. In ihren Augen glänzte der seltene, wertvolle, tiefe Glanz der Wissenden.

“Wir werden in Kürze Gäste empfangen. Ich habe da etwas von einem hübschen jungen Mann namens Wille gehört…”, sagte die Weisheit lachend und sah die Schönheit mit leichten Schritten und voller Leben zu den Gemächern ihres Vaters schweben.

Sie, die alles schon wusste. Die jedoch so wenige kannten.

“Schau, sie vertragen sich wieder, endlich!”, sagte die stolze, edle und gutmütige Frau, die anmutig lächelnd an der Seite ihres Gatten stand, in einem der obersten Stockwerke des Heiligen Tempels der Unendlichkeit. Die Frau, die zärtlich ihre Hand in die ihres Gatten legte. Die Mutter der beiden Geschwister.

“Gut”, antwortete ihr Mann, der den Namen seiner Gemahlin sprach. “Sehr gut, Liebe.”

1 Anmerkung zu “Die Schönheit und die Weisheit

  1. Sven Kaluza

    Hallo Markus,

    bin gerade zufällig auf deine Seiten gestoßen, da ich vor Kurzem den Arndt kennenlernen durfte und mir mal seine/eure Seite anschauen wollte.
    Da ich selber auch schreibe, musste ich die Geschichte mit Schönheit und Weisheit lesen.
    Gefällt mir gut, die Idee und die Umsetzung. Gratuliere!

    Viele Grüße

    Sven

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.