Die Henne und das Regenbogen-Ei
Es war einmal eine Henne. Die legte jeden Tag ein Ei. Das war immer so, jeden Tag. Ganz normale weiße Eier, die der Bauer morgens abholte und auf dem Markt verkaufte.
Doch eines Tages legte die Henne ein besonderes Ei. Es schillerte in allen Farben! „Das sieht ja aus wie ein Regenbogen“, dachte sich die Henne und nannte es ihr Regenbogenei.
Sie verliebte sich sofort in ihr Regenbogenei. Sie versteckte es vor dem gierigen Bauern und gab es nicht mehr her.
„Wie, Henne, heute kein Ei?“, fragte der Bauer wütend und zischte noch hinterher: „dummes Vieh!“.
Doch die Henne war überglücklich mit ihren Regenbogenei und holte es aus dem Versteck. Sie sah es mit verliebten Augen an und bewunderte es – es war so schön, perfekt und rund, groß und es schillerte hell in allen Farben in der Morgensonne.
Ja, wahrlich, dachte sich die Henne, und war stolz auf sich. Sie hatte das schönste Ei auf der ganzen Welt gelegt! Und so liebkoste sie ihr Regenbogenei, küsste es, hielt es warm und fing an, es zu auszubrüten.
Sie liebte das Gefühl, wenn sie dem Regenbogenei ihre Wärme gab – und das Regenbogenei ihre Wärme zurück strahlte. Es tat so gut.
Dann, eines Tages, erschrak die Henne. Ihr Regenbogenei war kaputt! Die glitzernde Schale war zerbrochen! Ein großer Riss klaffte inmitten der vielen Farben.
Die Henne war erschüttert, ihre Welt brach zusammen. Sie war am Boden zerstört. Was hatte sie nur falsch gemacht, fragte sie sich? Sie hatte doch alles für ihr Regenbogenei getan! Es geliebt, behütet, und mit Liebe gepflegt! War sie etwa falsch darauf gesessen und hatte es aus Versehen zerbrochen?
Aber es kam noch schlimmer. Das Regenbogenei zerbarst völlig. Es brach auseinander. Die schillernde Illusion der Farben und der perfekten Form war endgültig zerstört.
Die Henne versank im Boden. Sie wollte nicht mehr leben. Ohne ihr Regenbogenei machte ihr Leben einfach keinen Sinn mehr.
Doch dann, wieder ganz plötzlich, als die Henne schon aufgeben wollte, hörte sie leise Töne aus der zerbrochenen Eierschale.
Ein Küken schlüpfte langsam heraus. Regenbogenfarben. Wie das Regenbogenei auch gewesen war.
„Mama“, rief es mit piepsiger Stimme.
Die Henne schaute es an – und riesige Gefühle kamen über sie. Muttergefühle.
Sie hatte sich in das Regenbogenei so sehr verliebt gehabt, dass sie ganz vergessen hatte, das darin ein Küken heran wuchs, das wartete, auf die Welt zu kommen.
Verstört betrachtete sie die zerrissenen Schalen. „Wie konnte ich nur so dumm und verblendet sein, und mich nur in diese blöde Schale verlieben?“, dachte sie, „und dabei mein Küken dabei vergessen?“.
Sie schämte sich gewaltig.
„Mama, mir ist kalt!“, schrie das Regenbogenküken. „Ja, Kleines, ich komme“, sagte die Henne und nahm ihr Küken unter ihre wärmenden Fittiche.
Und sie verspürte dabei ein ganz neues, viel größeres Glück als jemals zuvor. Sie war jetzt Mutter und würde ihr Regenbogenküken zum Regenbogenhahn großziehen, in Dankbarkeit und Liebe.
Sie würde es achten und respektieren, egal in welcher Farbe auch immer er schillern würde.
…
So ist es bei uns Menschen im Leben auch. Wir verlieben uns oft in die glitzernde Schale und vergessen dabei das Küken darin.
Die Schale ist der Traum, der platzen muss, damit neues Leben entstehen kann. Doch als Belohnung für die Enttäuschung winkt uns eine viel größere Liebe als die dumme Verliebtheit. Und am Ende sind wir stolze Eltern von etwas wahrhaft Großem.
(Für Franco, als Geschenk an A. zum Muttertag)
Bild von Jessica59 auf Pixabay
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Hallo Markus,
ich bin jetzt erst dazu gekommen mir dein Link genauer anzusehen. Ich fühle mich bezüglich der Erwähnung richtig geschmeichelt. Dankeschön dafür.
Ich bin jetzt bereits neugierig darauf, und es würde mich freuen in einem gemeinsames Gespräch, mehr darüber zu erfahren, was deine Motivation oder gar dein Beweggrund war dieses niederzuschreibe?
Ein passendere und schönere Metapher, über das Sein und den Schein in unserer Gesellschaft, und somit für mich, die Trivialität des Inneren und dem Äußeren jeden einzelnen Menschen widerspiegelt. Doch wer kann schon von sich behaupten wahrhaftig zu sein?
In diesem Sinne
Bis bald *ciao* fra
gerne doch.
Die Motivation? Liebe.
Liebe? – mal wieder!
Literarisch sehr wertvoll und Walt Disney lässt grüßen *ufffff*