Der Steinbock und der Fisch

Der Steinbock und der Fisch

Eine Parabel

Von Markus Lochmann, 14.3.2021

Berglandschaft. Hohe, schneebedeckte Gipfel, schroffe Felsen. Weiter unten saftiger grüner Tannenwald. Im Tal ein blaugrün schimmernder Bergsee, das Wasser klar und kalt.

Am Ufer. Ein Steinbock trabt langsam ans Wasser. Er hat Durst von der Sommerhitze. Schließlich ist er so warme Temperaturen in seinen Höhenlagen nicht gewöhnt.

Also geht er zum Wasser und säuft genüsslich das köstliche Nass.

Plötzlich starren ihm aus dem Wasser zwei gelbgrüne Augen entgegen. Nanu, denkt sich der Steinbock und fragt: „Wer bist denn Du?“

„Ich bin der Fisch“, schallte es aus dem Wasser. Du kennst mich nicht? Ich bin der große Hecht! Ich wohne hier!“

„Hallo Fisch“, sagte der Steinbock, schön Dich zu treffen. „Ich bin der Steinbock. Wie geht es Dir?“

„Bestens!“, antwortete der Fisch. „Weißt Du, ich bin ein ganz großer Fisch hier. Ich habe tausende kleine Fische, die mir folgen. Ich habe dutzende Freunde und Bekannte hier im See und uns geht es richtig gut. Und Du?“

„Nun, ich wohne ja ganz oben auf dem Berg. Da ist es recht einsam und kalt“, erwiderte der Steinbock.

„Hahahaha“, lachte der Fisch. Was für eine traurige Existenz hast Du denn? Ich schwimme hier mit tausenden Fischen, bin beliebt und populär. Habe Macht und viele Freunde. Und Du? Du hockst alleine auf deinem Felsen rum, kaust an deinem spärlichen Grasbüschen und versinkst in Einsamkeit. Ein Nichts bist Du, ein Versager. Du hast ja noch nicht einmal ein gesellschaftliches Leben! Ich lache mich platt über so einen wie Dich“, höhnte der Fisch.

„Siehst Du? Ich bin der größte Fisch im ganzen See – und Du bist nichts.“

„Du hast ja Recht“, sagte der Steinbock. „Alles, was Du sagst, ist wahr.“ Er senkte den Kopf, und wollte schon gehen. Da drehte er sich plötzlich doch nochmal zum, der immer noch sein breites Grinsen über seinen grandiosen Sieg kaum verbergen konnte.

„Aber, weißt Du, Fisch. Du bist in deinem Tümpel gefangen. Du kannst der größte Hecht in Deinem Teich sein. Du kannst noch so viele hunderttausende Kleinfische haben, die Dir folgen. Dennoch wirst Du immer in deinem See gefangen sein.

Ich hingegen kann vom Berg herunterkommen und in deinen See steigen – Du aber niemals aus Deinem Wasser herauskommen zu mir auf den Berg.

Siehe, ich kann aus meinem Element in Deines eindringen. Aber Du niemals in meines.

Du bist gefangen – und ich bin frei. Ich kann klettern, wohin ich will. Und schon morgen bin ich vielleicht an einem anderen, viel schöneren See.“

Sagte es, tat einen großen Satz, und mit klirrenden Hufen kletterte er in Windeseile den Berg hinauf und verschwand im Nebel der Gipfel.

(für Anna ❤️)

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