Dem Volk aufs Maul schauen

„Dem Volk aufs Maul schauen ist etwas ganz anderes als dem Volk nach dem Mund reden“
Bertolt Brecht

Am Wochenende hatte ich die große Freude, den 89. Geburtstag meines Großvaters zu feiern. Durch die Wirren von Krieg, Gefangenschaft und Vertreibung heiratete er als Schwabe in die schlesische Sippe meiner Großmutter. Allesamt, sieben Geschwister, waren sie aus Schlesien zunächst von den Nazis, dann von den Russen vertrieben worden und siedelten sich nach Umwegen in der „Zone“ hier im Südwesten an.

Viele fanden Arbeit beim Daimler, andere wurden selbstständig, führten Musikschulen und Musikaliengeschäfte. Man entwickelte das, was heute als die „bürgerliche Mitte“ bezeichnet wird. Im Geiste lebte die Hochkultur der schlesischen Lieder weiter – sie wurden auf den Geburtstagsfeiern gesungen, zu Weihnachten und Ostern.

Sie singen sie heute noch. Sie sind alt geworden, die älteste Tante ist jetzt 96. Viele sind schon gegangen. So manchen hatten die seelischen und körperlichen Verletzungen der Kriegsjahre geschwächt, andere hatten sich in den fetten 50ern schlicht überfressen.

Die Werte unserer Geburtstagsgemeinschaft waren und sind konservativ. Man trauert, wenn auch wortlos, der verlorenen Heimat noch immer nach. Man lebt bescheiden. Der eine fährt Opel, der andere Mercedes. C-Klasse, natürlich. Man wählt schon immer CDU. Manchmal FDP. Außer einer, der mit dem Opel, der ist in der Gewerkschaft.

Seit meiner frühesten Kindheit war ich auf diesen Feiern. In den 70ern redete man über Politik, über die Ölkrise und Terroristen. In den 80ern wurden wir reich – die Eigenheime waren abbezahlt, die Kinder wurden groß. Allgemeiner Wohlstand brach aus. Es gab Videorekorder und Satellitenfernsehen. Man fuhr in den Urlaub nach Mallorca. Sorgen? Hatte man keine. Höchstens mal eine Scheidung.

In den 90ern waren die Krankheiten und Zimperlein die bestimmenden Themen auf den Familientreffen. Es gab die ersten Krebsfälle. Und Diabetes. Irgendwann starben dann die Schwächsten. Einer hatte gar ein Raucherbein und wurde fortan als erschreckendes Beispiel in der Familie geführt. Plötzlich redete man nicht mehr über Geld. Man hatte es halt.

Die Alten wurden weniger. Die jüngeren blieben den Feiern fern – sie waren entweder gerade im dritten Jahresurlaub in der Dominikanischen Republik oder mit dem zweiten Hauskauf beschäftigt. Enkel gab es, aber leider recht wenige. Und die waren eher vor der Playstation zu finden als in der Kneipe am Sportverein.

Warum erzähle ich das alles?  Nun, dieses Jahr war die Diskussion anders. Plötzlich waren da Themen wie „Moscheebau“. Oder kriminelle Ausländer. Oder der Türkei-Beitritt zur EU. Es wurde über Islamisten geredet. Und über die Kommunisten-Plage. Der Ton war rauer, die Stimmung mehr als nur besorgt. Es wurde hektisch. Es war politischer als in drei Jahrzehnten, demokratischer aber leider nicht. Die Ansichten waren teils radikal. Und auch die Alten, von denen ich eigentlich einen matten, satten Geist wie in den Jahren zuvor erwartete, waren plötzlich quicklebendig und aufgeregt. Klar, sie erkannten die Zeichen der Zeit. Schließlich hatten sie sie schon mal erlebt.

Es regt sich Widerstand in der deutschen Mittelschicht. Widerstand gegen unbegreifliche politische Korrektheit. Man glaubt dem Fernsehen nicht mehr, so wie man der Zeitung seit zehn Jahren nicht mehr vertraut. Die Politik steht schlecht da, in Volkes Augen. Sie gilt als gekünstelt, raffgierig und am Bürger vorbei agierend. Die Menschen fühlen sich entfremdet von ihren Vertretern. Die einfachen Bürger fühlen sich in ihrer Freiheit bedroht. Und sind somit von ihrem Staat enttäuscht. Dabei lieben sie ihr Land. Mehr als in vielen Jahren davor.

Wir sollten genau hinhören, in die Mitte des Volkes. Wir sollten nicht so tun, als könnten wir die vorhandenen Tendenzen und Sorgen der Menschen überspielen oder wegdrücken. Wir müssen uns mehr um die Sorgen und Nöte der arbeitenden, anständigen Mittelschicht widmen, bevor die Stimmung in dieser in etwas Irrationales kippt.

Es waren diese Leute, die dieses Land zu dem gemacht haben, was es heute ist. Leute, die mit Fleiß und Leistungsbereitschaft für eine Gesellschaft gearbeitet haben, die sie jetzt immer mehr im Stich lässt. Leute, die Fremden nicht das zur Zerstörung überlassen wollen, was sie mit ihren eigenen Händen geschaffen haben.

Es steht nicht gut um die deutsche Mittelschicht in diesen Tagen. Sie wird von Steuern und Abgaben erdrückt, während gesellschaftliche Randgruppen und Leistungsempfänger scheinbar ungerechte Begünstigungen erfahren. Ein tiefes Gefühl der Ungerechtigkeit wird so im Volk verankert.

Ich werbe dafür, dass die Politik wieder klare Botschaften sendet. Wir sollten die Juristerei den Juristen überlassen – diese aber uns das Regieren! Wir in den Parteien sollten Volkes Worte hören. Und ihm klarmachen, dass es auch gehört wird.

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