Das Ende der 68er

Wann, spätestens, wissen Sie, dass Sie am Ende sind? Wenn die „Zeit“ Sie auf der Titelseite als lebende Legende feiert. So geschehen mit Jürgen Habermas dieser Tage. Natürlich kam auch  die Nachricht vom zu frühen Tod von Ralf Dahrendorfs mitten in die Überlegungen zu diesem Posting. Eine Ära geht zu Ende – die Vordenker der 68er sterben weg.

Der Aufbruch in die einst glorreiche Zukunft ist nunmehr blutgetränkte, vernebelte Vergangenheit. Utopien wurden geboren und sind kläglich gescheitert. Die Idee des kollektiv Guten gebar das Monster des RAF-Terrorismus. Es hat eben wieder nicht funktioniert – das kollektive Gute. Einmal mehr scheiterte das linke System am Menschen an sich. Schade für die Theorie, wenn die Praxis sich ihrer nicht beugen will.

Und nun der Tod Dahrendorfs – des verjagten Propheten, der im eigenen Land viel zu wenig galt. Er war und ist einer meiner großen liberalen Vorbilder – ein echter Denker, ein großer Geist, stets ein wenig unangepasst und erfreulich unbequem. Genau so müssen liberale Denker auch sein – eigenwillig, kontrovers, freiheitlich und, ja, bitte auch ein wenig theoretisch.

Gerne hätte ich ihn kennen gelernt. Doch die liberale Stiftung hatte für uns liberale Studenten, vor lauter Prominenz, keinen Platz mehr.

Es wäre viel zu einfach, Dahrendorf nur als Antithese der 68er darzustellen. Er hat entscheidend die Weiterentwicklung der Nazi-verseuchten Nachkriegs-FDP und der „Freiburger Thesen“ geprägt und ist so im Nachhinein eher ein Teil des Ganzen geworden. Ohne Menschen wie ihn wäre vieles in den 70ern nicht möglich gewesen. Übrigens Dinge, die höchstaktuell sind: Bildungsreform, Bafög, (Nah)ost-Politik.

Nun ist die Zeit der Habermas’, Adornos, Dahrendorfs und Arendts, die Zeiten der Frankfurter- und Freiburger Schulen vorbei. Und wieder sind die Studenten auf der Straße, wieder gibt es einen „Frühling“, diesmal aber nicht in Prag, sondern bemerkenswerterweise in Teheran.

Die deutschen Grünen sind inzwischen kommunale Mehrheitspartei; angepasst und salonfähig verwelken sie in Regierungsbeteiligungen, die linke Utopie reduziert sich auf Sozialneiddebatten und Hartz4-Schelte. Der radikale Liberalismus hat sich selbst durch unkontrollierte Gier ad absurdum geführt und die Sozialdemokratie liegt in der sozialromantischen Agonie der schwindenden Genossenschaft.

Wieder artikuliert sich ein Wille nach Veränderung – nur, dass der gedankliche Ursprung diesmal nicht in der deutschen Soziologie, sondern im amerikanischen Präsidenten zu finden ist. Dessen erfrischende Pragmatik ersetzt in weiten Teilen jede Ideologie. Und dessen einfache Sprache ist allemal einprägsamer als der irre Buchstabensalat der deutschen Soziologen der Sechziger.

Nur, meine ich, alleine der Ruf nach Veränderung führt noch zu keiner Besserung der Verhältnisse. Der Durst nach Neuem kann nicht auf den Aufstieg eines einzelnen begründet sein, sei er auch noch so „remarkable“.

Es ist also Zeit für uns, die neue Idee zu entwerfen.

Es ist ein mühsames Geschäft – und vor lauter „überleben müssen“ komme ich kaum zum Studieren der wirklich wichtigen Dinge, geschweige denn zum Aufschreiben derselben. Wir haben eben wenig echten Frei-Raum in dieser Entertainment-Gesellschaft.

Doch ich sehe Bewegung in der FDP, gerade auch unter den jüngeren in der Partei, den netz-affinen, der Generation@. Wir haben das Zeug dazu, eine neue Idee der Freiheit im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Common sense, Technologie, Graswurzel-Demokratie, Communities, Netzwerke, Globalismus. Nur einige Stichworte, wohin es gehen könnte.

Im Gegensatz zur Stagnation der anderen politischen Richtungen ist der Liberalismus, gezwungenermaßen, wieder im Fluss. Er täte dabei gut daran, sich seiner Wurzeln zu erinnern.

Wir ehren die 68er, nehmen aus der Epoche das Beste mit – und lassen hoffentlich den utopischen Restmüll im Papierkorb der Geschichte. Auch wenn die Wirklichkeit inzwischen mit Twitter und Facebook vielleicht näher an der diskursiven Demokratie ist, als Jügen Habermas es jemals gewagt hat zu denken.

Mit den Rezepten der 68er freilich kann man in 2009 keinen Neustart machen. Das erfahren gerade die Sozialdemoraten. Die technisch vermittelte Wirklichkeit hat längst ein ganz anderes Gesicht. Das politische System täte aber gut daran, die protestierenden Massen von jungen Leuten nicht im ideenlosen Kontra zu belassen; denn – wenn das System den Menschen keine brauchbare Idee liefert, werden sie früher oder später eine andere adaptieren.

Es ist zwar noch keine Revolution allein aus einer Idee heraus entstanden – immer waren die blanken Nöte der Menschen der letztlich ausschlaggebende Grund – doch aus den Brüchen der  Revolutionen keimten immer wieder neue Ideen – ob nun die der Menschenrechte oder der sozialen Sicherung. Und auch heute ist der Wunsch nach Gerechtigkeit überdeutlich zu spüren.

Wie Barack Obama es in Kairo formulierte „We are not an empire – our nation was born out of a revolution against an empire! “ *

Der Grundgedanke der modernen freiheitlichen Demokratie ist das Resultat der Auflehnung gegen die Obrigkeit. Das sollten wir nie vergessen.

Da würden sogar Dahrendorf und Habermas zustimmen, wetten?

Ich meine, es ist – ganz dialektisch – an der Zeit, Brücken zwischen den großen Ideen zu bauen. Der Widerspruch des Kollektiven mit dem Subjektiven in der Gesellschaftstheorie korreliert mit dem Mikro-Makro-Problem in der empirischen Sozialwissenschaft. Wahrheit ist eine Frage des Standpunktes und Wirklichkeit eine der Wahrnehmung. Somit ergibt sich eine Relativität von Theorie, die, richtig verstanden, auch abstrakt beschrieben werden kann.

Das große Projekt der Postmoderne ist die Zusammenführung der kollektivistischen Theorien mit dem individualistischen Ansatz in der Gesellschaftstheorie. Das kann meines Erachtens nur auf zwei Ebenen geschehen. Zum einen durch historische Analyse der Denkmodelle und zum anderen durch dialektische Gegenüberstellung der Denkschulen.

Man muss sie quetschen, mahlen, immer und immer durch die Mühle der Ratio schicken, dann kneten, homogenisieren und unter der Hitze und dem Druck der Realität ausbacken. Als Ergebnis stünde dann eine Idee, die das Beste aus beiden Welten vereint; Freiheit und Sicherheit; Markt und Regeln; Wirtschaft und Soziales.

Und jetzt kommen Sie bitte nicht auf den Gedanken, das alles hätten wir schon. In der Tat, wir haben mit der sozialen Marktwirtschaft ein gut funktionierendes System, welches allerdings immer weiter ausgehöhlt wird und eben nicht die Antworten auf Zukunftsthemen wie die Gentechnik, Informationsfreiheit im Internet, die Globalisierung oder den Umgang mit sozialen Verwerfungen liefert. Außerdem ist es chronisch überschuldet und schrumpft.

Sind wir zu frei? Nein, wir sind zu egoistisch. Wir brauchen, mit Dahrendorfs Worten, mehr Besinnung auf das Gemeinsame.

Zu guter letzt habe Ralf Dahrendorf selbst das Wort (2002):

Bedauerlich ist aber, dass in Deutschland der große Generationsschub immer noch nicht stattgefunden hat. Die 68er im weitesten Sinne, die in irgendeiner Weise durch diesen Umkreis Geprägten, haben nach wie vor das Heft in der Hand. Das ist besonders lästig, da es in der Generation der 40-Jährigen einen freieren Umgang mit vielen Themen gäbe. Das wird aber kommen.

http://www.welt.de/print-welt/article414382/Deutschland_nimmt_eher_Prozac_als_sich_mit_natuerlichen_Mitteln_zu_helfen.html

*in einem anderen Beitrag später mehr zur Obama-Rede in Kairo.

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