3.1.7 Über die Geschichtliche Methode

Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Johann Wolfgang von Goethe, Faust – Zweiter Teil  

Der geneigte Leser, sofern er unserer Argumentation bis hierhin gefolgt ist, mag sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der „geschichtlichen Methode“, die ich in diesem Text angewandt habe, stellen. Nun, die Antwort gestaltet sich recht einfach: Es gibt keine andere. Diese Position möchte ich auch sogleich begründen: In unserem Weltbild existiert kein Wissen a priori. Der Mensch wird zum Menschen erst durch dreierlei gleichzeitige Einflüsse:

1. Er hat die genetisch vererbten Voraussetzungen, Sprache zu erlernen. Über das Mittel Sprache schafft er die Abstraktionen, die ihn zum Denken in Kategorien befähigen. (vgl. Dazu Maturana/Varela: Der Baum der Erkenntis, Kap. 10).

2. Der Mensch wächst in einer sozialen Umgebung auf, die ihm die Sprache, verbal und literal, beibringt und ihn somit zum abstrakten Denken befähigt und

3. der Mensch hat Zugang zu Quellen des Wissens, die er mit den Instrumenten Sprache und Denken sich aneignen kann.

Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine sinnvolle Auseinandersetzung mit den Begebenheiten der jetzt existierenden Wirklichkeit überhaupt erst stattfinden. Ergo: Zum Verständnis des Jetzt muss ich erst das Gestern gelernt haben. Wie wir im Kapitel Bildung noch sehen werden, ist der Mensch das, was er gelernt hat. Die Aneignung von Wissen verändert den Menschen körperlich. Er ändert sozusagen seine Struktur. Dies zeigt sich in verschiedenen Verhaltensweisen, die sich mit steigender Bildung ändern, einer anderen Triebbeherrschung und anderen Ernährungsweisen. Du bist also nicht (nur), was Du isst, sondern (vor allem) was Du gelernt hast.

Eine weitere Begründung der geschichtlichen Methode entsteht aus der Tatsache, dass es keine Kontinuität des Jetzt in die Zukunft gibt. Wir machen uns das oft nicht klar: nichts, absolut nichts, muss morgen auf der Grundlage bestehen, dass es heute existiert. Es gibt wohl eine Wahrscheinlichkeit, dass z.B. ein Gebäude morgen noch steht, oder dass ich meinen Job morgen noch habe. Aber es gibt keine Garantie.

Die Geschichte hingegen, als objektiver Tatbestand ist sicher. Dinge sind geschehen und lassen sich nicht rückgängig machen. Die Täuschung der linearen Zeitlinie ist Fluch und Segen zugleich: Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, auch wenn sie noch so schmerzt. Andererseits bietet sie uns die einzigartige Chance, Dinge aus sicherer Quelle zu lernen. Wir lernen immer Geschichte, niemals die Zukunft. Das ist unserer Existenz immanent. ((Mehr zum Zeitbegriff unter http://de.wikipedia.org/wiki/Zeitsoziologie und
 http://de.wikipedia.org/wiki/Zeit_%28Philosophie%29 ))

Was bedeutet das nun für das Heute, das Jetzt? Nun, die Vergangenheit beeinflusst das Jetzt direkt. Wir leben im Jetzt sozusagen die „Verlängerung der Vergangenheit“. Unser Jetzt baut auf das Vergangene und produziert Wahrscheinlichkeiten für die Zukunft. Mehr aber auch nicht. ((Einige Hirnforscher bringen jedoch interessante Theorien ins Spiel: So kann z.B. das menschliche Gehirn die Klangfolge einer Melodie antizipieren, diese also „vorhören“. Das Gehirn scheint also fähig zu sein, auch nichtlineare Zeitstrukturen zu verarbeiten. Der Gedanke jedoch, das das Zukünftige das Vergangene bestimmen könnte, ist in unserer Alltagserfahrung und in unseren Denkweisen bislang fremd geblieben. Auch die Physik scheint jedoch in den letzten Jahren die Linearität der Zeit in Frage zu stellen: Nach Einsteins Grundlagen zur Relativität sind im Zuge der Quantenmechanik Phänomene bekannt geworden, die zumindest scheinbar die Lichtgeschwindigkeitsbarriere umgehen und so die Zeit umkehren können. Siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Tunneleffekt ))

Wenn wir nun auf rein empirischer Basis argumentierten, würde das bedeuten, die Grundlage der Existenz außen vor zu lassen – ja die Existenz von (gefundenen) Daten per se anzunehmen. Das ist zwar in sich richtig und zur Deskription (Beschreibung) des Jetzt hinreichend, niemals jedoch zur Erklärung der in der sozialen Wirklichkeit auftretenden Phänomene. Wir können also unsere Umwelt ohne Geschichte dokumentieren, aber niemals verstehen.

Das ist der Fehler der rein empirischen Wissenschaft, die keine Geisteswissenschaftlichen Methoden beinhaltet. Kein Statistikprogramm der Welt kann uns die Wirkung eines normativ argumentierenden Textes aufzeigen – es gibt in der Rezension von politischen Texten keine Korrelationen und schon gar keine Kausalitäten. Das Verständnis von Staatstheorien braucht die geschichtliche Analyse der Grundlagentexte a) um die Denkmodelle der Vergangenheit durch den sprachlichen Schleier hindurch zu verstehen und b) die eigenen Denkmodelle, die durchaus aus empirischen Daten gewonnen sein können, zu überprüfen.

Probleme bei der geschichtlichen Methode

Die Analyse der vorliegenden geschichtlichen Texte birgt natürlich erhebliche Probleme. Zum einen ist uns der sprachliche Kontext der Autoren aus vergangen Jahrhunderten nicht ohne weiteres zugänglich. Wir verlieren kontextuelle Informationen, die in diesen Texten stecken, gleichwohl bleiben all jene sprachlichen Bilder unklar, die z.B. zur Umgehung von Repressalien in die Texte eingearbeitet wurden. Weiterhin ist uns die Intention des Autors oftmals nicht klar, genauso wenig wie wir das Publikum und seine Rezeptionsgewohnheiten kennen. Also behelfen wir uns mit der Methode der „rationalen Rekonstruktion“, um die in den Quellen enthaltenen Denkstrukturen zu „extrahieren“. Dass dabei erhebliche Verzerrungen im Sinne des Interpretierenden auftreten, ist klar. Ich sage dazu immer, dass „kein chinesicher Wissenschaftler heute in China objektiv über Menschenrechte schreiben kann„.

Zum anderen haben wir das Problem, dass die in den Texten geschilderten gesellschaftlichen Umstände nicht mehr vorhanden sind. Wir können schlicht nicht mehr die Nöte, Ängste und Emotionen aus den vergangenen Epochen herbeiholen, die Autoren zum Schreiben ihrer manchmal lebensbedrohenden Texte bewogen haben.

Die Weltsicht der Autoren ist also verloren und wir müssen abermals unsere Fähigkeit zur Abstraktion bemühen, um ihre Intentionen herauszufinden. Gleichzeitig müssen wir uns um „Objektivität“ bemühen und die abstrahierten Denkweisen in unsere eigenen Werte und Denkweisen einfügen. Das gelingt naturgemäß nur suboptimal und birgt nicht unerhebliche Fehlerquellen.

Last but not least stellt auch die schiere Menge an Texten eine Quelle der Verzerrung dar: Die Selektion der Quellen gibt dem Autor der Moderne und seinem Text eine Richtung und eine Tendenz vor. So haben Heerscharen von kommunistischen Staatstheoretikern in 70 Jahren Kilometerweise Regale mit „Wahrheiten“ gefüllt, die heute eher als Gruselkabinett der Staatstheorie gelten müssen. Dennoch waren sie alle von ihrem Tun und ihrer Methode überzeugt – was uns die Relativität des Wissens trefflich vor Augen führt. Welches die Richtung und die Tendenz dieses Textes ist, erschließt sich relativ schnell mit einem Blick in das Inhaltsverzeichnis. ;-)

Wohin führt uns also die geschichtliche Methode?

Wir bilden aus der (hoffentlich zweckmäßigen) Selektion der Quelltexte die Basis für unsere Denkstruktur, mit der wir die Welt, in der wir leben, analysieren, beobachten und bewerten(!) können. Wir stellen also unsere eigene Erfahrung in Relation zu den Erfahrungen der Vergangenheit und stellen, so denn die Methode funktioniert, in unserer Erfahrung Gemeinsamkeiten und/oder Differenzen mit der Vergangenheit fest. Wir bilden uns eine Meinung. Aus der Lektüre der Geschichte erwächst die Fähigkeit zur Bewertung des Jetzt und zur sinnvollen Bildung von Erwartungen an die Zukunft.

Mit dem Wissen, dass es keine Fortschreibung der Vergangenheit in die Zukunft geben kann, sondern dass die Zukunft jeden Tag neu erschaffen werden muss – indem wir permanent über das Jetzt und das Vergangene reflektieren, haben wir erst die Chance zur Veränderung. Nur weil das Morgen nicht durch das Heute oder das Gestern bestimmt ist, sind wir frei. Nur durch die Reflexion erreichen wir eine Veränderung, die mit einer menschenfreundlichen Ethik gepaart zum Wohle aller führen kann. Daher brauchen wir die geschichtliche Methode.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.