Die Taliban haben gut lachen. Das Einzige, was sie tun müssen, um innerhalb von fünf Jahren wieder an die Macht in Afghanistan zu kommen, ist, ganz ruhig in den Bergen Pakistans abzuwarten. Der Westen hat soeben auf der Londoner Afghanistankonferenz den Anfang vom Ende seiner Mission für die Freiheit erklärt. Auch Westerwelles gepriesener „Ausstiegsplan“ für Mitläufer ist weiter nichts als ein Geständnis des „wir wissen nicht, was wir weiter tun sollen“. Der geneigte Taliban-Mitläufer lässt sich eben die nächsten paar Jahre vom Westen bezahlen, bevor er dann wieder mit wild wehenden Fahnen in Osamas Schoß zurückkehrt, nachdem die Ungläubigen das Land endlich verlassen haben.
Nun also befindet sich die NATO just an dem selben Punkt wie einst die Rote Armee: Nach einem knappen Jahrzehnt sinnlosem Dahinkämpfelns, ohne ausreichend Truppen, ohne klaren Auftrag und ohne echtes Kriegsziel, sieht man endlich ein, dass der Krieg in Afghanistan „mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen ist“.
Weit über 900 tote Amerikaner und Nato-Soldaten seit Kriegsbeginn 2001, vorrückende Taliban-Kämpfer und dazu eine korrupte und zunehmend ungeliebte Regierung in Kabul – in Wahrheit steht Obama in Sachen Afghanistan mit dem Rücken zur Wand. http://www.focus.de/politik/ausland/offensive-in-afghanistan-obama-setzt-auf-risiko_aid_479972.html
So ein Blödsinn – es wurde mit richtigem Einsatz schließlich gar nie versucht. Die Vorstellung, man könnte ein paar tausend Mann nach Afghanistan schicken, dort ein paar schicke Zeltlager errichten, ein bisschen Polizei spielen und mit erhobenem Moralfinger umherlaufen – der gemeine Taliban würde dann schon die Überlegenheit des westlichen Systems einsehen – diese Vorstellung ist so absurd naiv, dass es schon unglaublich erscheint, dass gestandene Staatsmänner und –frauen sich ihrer hingegeben haben.
Wollte man die Taliban wirklich besiegen, müsste man Afghanistan und die Berge Pakistans regelrecht besetzen. Zehntausende würden sterben, Milliarden verpulvert. Und das will wirklich niemand.
Der Westen hat die alten Fehler der Sowjets wiederholt. Er hat, ohne die Eigenheiten des Landes anzuerkennen, eine korrupte, unbeliebte Regierung installiert – die ohne westlichen Einfluss sofort gestürzt werden wird. Er hat es nicht geschafft, den Geldhahn der Taliban und damit den Waffenfluss abzudrehen. Ein Faktum, welches in Zeiten, in denen ich meinen Hund bei Google Earth erkennen kann (wirklich wahr, siehe hier) umso unglaublicher erscheint – fast denkt man, es wäre gar nicht gewollt den Heroinfluss aus Afghanistan zu stoppen. Ja, da verdienen eben ganz viele mit. Oder warum gibt es die Opiumfelder dort immer noch?
Mit einem Anteil von derzeit 93 Prozent am illegalen Weltmarkt für Opiate (Opium, Morphin, Heroin) hat das asiatische Land eine Monopolstellung erlangt. Seit kurzem ist Afghanistan auch wieder zu einem global führenden Produzenten von Cannabis (Haschisch) geworden.
Nicht nur am Opium wird verdient – auch die Waffen der Taliban muss ihnen jemand verkauft haben. Ich will gar nicht wissen, wie viele Dienste und schleimige Gestalten a la Schreiber da drinstecken. Wundern würde mich dabei gar nichts – auch nicht, wenn deutsche Firmen ihre Finger im schmutzigen Spiel hätten. (Das wäre doch was für Monitor und Co.; oder trauen sich die Damen und Herren „investigativen“ Journalisten da etwa nicht ran? Klar, auf FDP-Ministern rumhacken ist viel gemütlicher)
Es ist ja auch dreckig in Afghanistan. Und nicht nur dort. Die Welt wollte(!) sich schon in Kopenhagen auf nichts einigen und die westliche Wertegemeinschaft schafft es nicht einmal im Angesicht einer real existierenden Bedrohung Antworten auf religiöse Fanatiker und „failed states“ zu finden.
Immer mehr Staaten zerfallen – wie eine Epidemie grassiert die Anarchie in Ländern wie Somalia, Jemen, Sudan, Kongo, dem Gaza-Streifen und Haiti. Aber auch Zentral-Afrika, Nigeria, Teile Indonesiens, Thailands, Laos, Pakistans, Kolumbiens, des Tschad, des Libanon und den Philippinen werden schon heute nicht mehr von staatlichen Organen, sondern von Terrorgruppen regiert. Auf der Liste der Kandidaten als „failed states“ stehen auch solche Länder wie Venezuela, Peru und Bolivien (zunehmend sozialistisch) oder Kambodscha, Burma oder Sri Lanka.
List of failed states: 1 Somalia, 2 Zimbabwe, 3 Sudan, 4 Chad, 5 Dem. Rep. of the Congo, 6 Iraq, 7 Afghanistan, 8 Central African Republic, 9 Guinea, 10 Pakistan, 11 Ivory Coast, 12 Haiti, 13 Burma, 14 Kenya, 15 Nigeria, 16 Ethiopia, 17 North Korea, 18 Yemen, 19 Bangladesh, 20 East Timor, 21 Uganda, 22 Sri Lanka, 23 Niger, 24 Burundi, 25 Nepal, 26 Cameroon, 27 Guinea-Bissau, 28 Malawi, 29 Lebanon, 30 Republic of Congo, 31 Uzbekistan, 32 Sierra Leone, 33 Georgia, 34 Liberia, 35 Burkina Faso, 36 Eritrea, 37 Tajikistan, 38 Iran
Für keines dieser Länder hat die Weltgemeinschaft irgendeine Lösung parat. Die Entwicklungshilfe ist gescheitert, die Kolonialzeiten will keiner zurück – zur Selbständigkeit jedoch sind diese Staaten nicht willens, fähig oder beides gleichzeitig. Die vielen Deklarationen, die die vom Westen hofierten und dabei fett gewordenen Eliten unterschrieben haben, sind oft das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Menschenrechte werden mit Füßen getreten und Freiheiten gnadenlos unterdrückt. Die Welt ist heute in einem schlechteren Zustand als vor vierzig Jahren.
Der immer schneller wachsende materielle Reichtum der westlichen Welt (wobei ich der felsenfesten Überzeugung bin, dass wir nicht zuviel Reichtum in der Welt haben, sondern zu wenig, was mich signifikant von jedweder Linksideologie unterscheidet) hat leider nicht ein Jota mehr an Sendungsbewusstsein in Sachen Menschenrechte gebracht. Im Namen des wirtschaftlichen Wachstums haben wir sträflich die Wertorientierung vernachlässigt – in unserer Nabelschau haben wir die unterdrückten Menschen in den armen Ländern vergessen. Das beginnt sich jetzt zu rächen.
Denselben Fehler macht gerade jetzt Obamas Amerika. Obamas Strategie der Kompromisse (das ist, was bleibt nach der Lektüre seiner beiden Bücher) ist innenpolitisch sicher notwendig und richtig. Außenpolitisch gibt er damit, wenn er nicht energisch argumentiert, willfährig Amerikas Rolle als geistig-moralische Weltmacht auf – zugunsten windiger Gestalten wie Chavez, Putin und anderen Despoten. Diplomatie ist eine hohe Kunst – wenn es denn etwas zu verhandeln gibt. In den „failed states“ jedoch ist längst nichts mehr zum Verhandeln da! Was mit Moskau noch geht, geht mit Khartum eben nicht mehr.
Der internationale Terrorismus ist auch ein Produkt unseres übersteigerten Egoismus. Zu viele Hoffnungen wurden geweckt und enttäuscht. Zu lange haben wir weggesehen und das Elend der Welt verdrängt. Wir haben uns um ein nicht existierendes Waldsterben gekümmert, dabei hat es ein echtes Menschensterben gegeben. Wir installieren Umwelt-Zonen wo andere verhungern. Zu wenig haben die Reichen abgegeben, zu wenig wurde die Armut bekämpft. Und zu vielen Diktatoren wurde von der CIA unter die Arme gegriffen.
Wahrscheinlich braucht die Welt (leider schon wieder) erst einen richtig großen Krieg, bevor sie sich zurück an den Verhandlungstisch setzt, an dem einst die UNO und deren Grundgedanken entworfen worden sind. Im Augenblick jedenfalls ist nirgends ein Ansatz zu erkennen, der die Staaten dieser Erde dazu bringen könnte, sich dem Problem der „failed states“ ernsthaft(!) anzunehmen. Es lebt die Staatenwelt im Hobb’schen Urzustand, als hätte es Supranationales nie gegeben; es sonnen sich eitle Lichtgestalten im Kameralicht von teuren und sinnlosen Gipfelkonferenzen wie einst die am Hofe zu Versailles. Witzfiguren, Selbstdarsteller und Plaudertaschen bestimmen die „große“ Politik.
Und draußen in der Welt hungert das Volk. Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass der (bildliche) Sturm auf die Bastille eines Tages kommen wird. Und, oh welch’ Erkenntnis; auch unsere Menschenrechte wurden erst aus dem Blut der Massen geboren. Der Westen müsste sich ab und zu nur an seine eigene Genese erinnern. Haben wir als Menschheit denn gar nichts gelernt?
1945 wurde in der UNO-Charta die Verwirklichung der Menschenrechte beschlossen – 2010 werden sie in über 100 Staaten missachtet. 1948 wurde zur Erlösung des jüdischen Volkes Israel gegründet – 2010 haben wir es immer noch nicht in seiner Existenz gesichert; die Palästinenserfrage ist immer noch nicht gelöst. 1966 einigte sich die UNO auf die ersten beiden völkerrechtlich verbindlichen Menschenrechtskonventionen und 2010 werden Menschen weiter gefoltert und hingerichtet. 2009 hungerten erstmals mehr als eine Milliarde Menschen, mehr als jemals zuvor. Die meisten davon in Regionen mit „failed states“.
Und die Herrschaften im Berlin schicken 500 Soldaten mehr nach Kabul. Die anderen Herrschaften in London ein paar tausend. Als ob das den Weltenbrand löschen könnte! Das gemeine am Terroristen ist nämlich seine Gemeinheit – Der gemeine Taliban geht halt nach Pakistan wenn’s in Afghanistan zu brenzlig wird. Der gemeine El-Kaida-Terrorist hingegen reist gerne mal nach Somalia, in den Sudan oder, wer weiß, demnächst nach Haiti. Das Böse sucht sich seine Nische, immer da, wo keine staatliche Ordnung mehr existiert. Wo Geld, Korruption und Gewalt herrschen, wird sich die tödliche Brut niederlassen – und weiter morden.
Wenn die Welt sich der fallenden Staaten nicht annimmt und eine große Strategie entwickelt, wie alle Menschen als Menschen ihre Rechte leben können – wenn keine Institutionen zur Staatenbildung geschaffen werden – keine wirklich Handlungsfähigen internationalen Truppen, die auch zum wirklich effektiven Einsatz legitimiert sind, keine echte Weltbank und keine echte, ausreichende, mit politischem Willen begleitete Entwicklungshilfe existiert; solange der Westen sich geniert, seine in blutigen Freiheitskämpfen und in zwei Weltkriegen teuer erworbenen Erkenntnisse und menschlichen Fortschritte aktiv und mit Kraft in internationales Gesetz zu pressen und durchzusetzen, solange es keine tragfähige Strategie zur Rettung von Menschen aus Genoziden und Diktaturen gibt;
solange wird der Reflex des Griffs zum Portemonnaie der einzige sein, der dem schwächer werdenden Westen noch bleibt. Dass dieser Trick jedoch keine Lösung bringt, liegt in der Natur der Sache. Mit Geld kann man eben keine Ehre und keine Überzeugung kaufen, kein Pathos und keine Empathie – auch in Afghanistan nicht. Umso trauriger stimmt mich, dass deutsche Politiker, die sich selbst als personifizierte Vertreter der Freiheit begreifen, in ihrer Verlegenheit eben diesen billigen Reflex ausüben. Anstatt die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um tragbare Strategien zum Wiederaufbau von gefallenen Staaten zu entwickeln, verfallen wir in spätmittelalterliches Söldnertum. Ist das nun die viel gepriesene Fortsetzung der deutschen Außenpolitik? Nichts als Scheckbuchdiplomatie?
Deshalb ist die Londoner Konferenz die Bankrotterklärung des Westens. Er gibt seinen moralischen Anspruch auf global gültiges Menschenrecht auf und verneint seine Bereitschaft, die Menschen außerhalb seines direkten Einflussbereiches vor Despoten und religiösen Fanatikern zu schützen. Er zieht sich auf eine monetäre Position zurück, die er sich aufgrund seiner immensen Verschuldung eigentlich gar nicht mehr leisten könnte. Besonders die Rolle Europas ist traurig – militärisch ein Nobody, finanziell angeschlagen, introvertiert, schlecht geführt, innerlich zerstritten und politisch im Spiel der Großmächte USA und China de facto bedeutungslos, fungiert die Gemeinschaft mal als Anhängsel der Amerikaner, mal als halbherzige Schutzmacht am Horn von Afrika. Dabei wäre es im ureigensten Interesse Europas, ein prosperierendes Afrika zu haben. Stattdessen überlassen wir den skrupellosen chinesischen Kommunisten das Feld.
Noch könnte der Westen – wenn er denn wollte. Noch hätten wir die Kraft, der Welt ein neues, besseres, gerechteres Modell zu geben. Jetzt, gerade jetzt, ist die letzte Generation westlicher Politiker an der Macht, die es alleine schaffen könnten, Frieden, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verbindlich für alle auf diesem Planeten zu machen. Jetzt, heute, gerade in diesem Augenblick, tragen Menschen in unseren westlichen Ländern die Verantwortung für diese eine, ganze Welt.
Diese Menschen sind es auch, die sich werden sagen lassen müssen, eine historische Chance vertan zu haben. Denn die nächste Generation an westlichen Politikern wird die Mittel zur Durchsetzung von globalen Normen aus eigener Kraft nicht mehr besitzen. Das sagt uns alleine schon die Demographie. In dieser Krise lag die Chance, die Welt zum Besseren zu verändern. Der Westen hat sie nicht genutzt.
Auch Athen hatte auf Dauer keinen Bestand. Rom nicht. Und auch der Westen wird keinen haben. Wenn von der Blüte dieser unseren Kultur etwas bleibt, sollte es das universelle Menschenrecht sein. Das Recht eines JEDEN auf dieser Erde in Freiheit, Sicherheit und in Bildung, Aufklärung und Liebe zu leben. Und nicht der profane Griff zum Geldbeutel.
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