Wie ich Amerika lieben lernte

(Fundstück aus 2007)

Es war endlich so weit. Nachdem ich in monatelanger Nachtarbeit mich durch die geistigen Grundlagen des aufsteigenden Liberalismus des 18. Jahrhunderts gewühlt hatte, Toqueville und Thoreau gelesen, die Bill of Rights und die Constitution studiert, setzte ich endlich meinen Fuß in das Land of the Free.

Billigflieger machen vieles möglich, und so kam ich zu meinem ersten Amerikabesuch wie die berühmte Jungfrau zum Kind.

Angst hatte ich keine, aber Respekt. Respekt vor dem medienvermittelten Zerrbild, dass uns Unionseropäern derzeit eingetrichtert wird. Respekt vor der schieren Größe des Staates. Respekt vor der angeblichen Gefahr. Zum Glück gehörte ich zu den wenigen Privilegierten, die sprachlich und interessehalber sich den USA direkt medial mittels CNN und Konsorten nähern konnten – so kannte ich zumindest die medienvermittelte Wirklichkeit auf beiden Seiten des Teichs.

Es war anders. Der erste Eindruck war warm. Und es roch nach Schmieröl. Dieser Geruch sollte uns stetig begleiten. Das Land roch nach künstlicher Vanille, Desinfektionsmittel und Schmieröl. Verführung, Vernichtung und Gleitmittel. Das ist Amerika.

Es war einfacher: Der Immigration Officer lobte BMW und Porsche, nachdem mein Bruder ihm verriet, dass er im Autobusiness sein Geld verdiente. Er wolle sich einen 928er Porsche kaufen, erzählte der gute Mann, wobei man aus seinem lächelnden, sonnen gebräunten Gesicht die italienischen Vorfahren meilenweit ansah. Ihm sei’s gegönnt, ein schöner Wagen, älteres Modell, aber gut auf der Langstrecke. Er solle sich nur das Getriebe näher ansehen, meinten wir.

Es wurde viel gestempelt in den USA: Das harte Schlagen der befreienden Tintenflecke in möglichst jungfräuliches Bundesgrün schien wie ein Ritual zu sein: Es hieß: willkommen, oder: ja, wir wollen dich! Aber zu unseren Konditionen. Und pass bloß auf, sonst wird’s happig. Der Stempelschwung gleichsam als Schmeichelei und Drohgebärde in einem – Du darfst, aber nur, wenn wir dich lassen.

Den ersten Fehler machte ich am Counter des Mietwagenunternehmens: Etwas zu laut ließ ich, ganz in deutscher „hier bin ich“ – Manier den Koffer gegen die Theke knallen. Die Menschen um uns zuckten zusammen. Aha, dachte ich. Sorry. Sie haben Angst. Überhaupt hatte ich das Gefühl, die Menschen wollten sich für ihr Dasein entschuldigen – sie schienen ein schlechtes Gewissen zu haben. Nein, nicht individuell, sondern als Volk, als Ganzes, als Staat. Das, was Amerika in der Welt heute war, tat ihnen Leid. War das Kollektivschuld? Ich war ratlos.

Also bemühte ich mich in Folge, nicht mehr so laut zu sein. Was diese Menschen erlebt haben mochten, welche Bilder Ihnen bei Knallgeräuschen durch die Nervenenden zuckten, welche Massaker sie permanent in ihrem Unterbewusstsein fürchteten, ahnte ich. Aber waren die Bedrohungen hier realer? War es nicht auch bei uns schon so weit, dass man in jedem Zug abgeknallt werden konnte? Ich wusste es nicht.

Zum Glück kenne ich nach meinem Tod 1999 keine Angst mehr. Sie lachen? Es ist wirklich so. Wer einmal alles, vor allem sein Leben, verloren hat; wer weiß, was sich hinter der Kurve verbirgt, der kann in dieser Welt keine wirkliche Angst mehr empfinden. Es ist eben so: Nur wer das Absolute erlebt hat, kann das Relative relativieren. Doch zurück nach Amerika.

Ausgestattet mit Ayn Rands „Atlas Shrugged“ lernte ich das Land meines Großvaters kennen. Ich liebte die Offenheit der Menschen. Ich liebte ihre Gelassenheit gegenüber dem Fremden. Ich liebte die liebevolle Käuflichkeit von allem und jedem, die richtig verstanden ein ritueller Akt war wie bei uns das stetige Verneinen jeglicher Geschenkannahme Pflicht des Tugendhaften ist. Kommerz ist nur das Mittel zum Zweck, schoss es mir durch den Kopf. Geld hatte hier keine Moral – es war werte- aber nicht wertlos. Ganz im Gegensatz zu uns, wo mit Geld immer die Moralische Keule mit geschwungen wird. Ich verstehe es bis heute nicht, warum es in Europa schändlich ist, mit Geld zu handeln, es zu besitzen, er überhaupt zu wollen. Die Nachwehen des Antisemitismus ziehen noch immer über den alten Kontinent – nur wird er nicht mehr offen benannt. Die Geisteshaltung hingegen ist ständig präsent.

Sie waren schlechter gekleidet, die Menschen hier, sie kümmerten sich weniger, sie waren mehr Herde als sie je sich hätten eingestehen wollen. Im Land des Individuellen war die Masse das Dekret – welch tröstliche Einsicht für jeden Gesellschaftskritiker europäischer Prägung, der die wenig fruchtende Aufklärung beklagt.

Sie haben Kraft, diese Menschen hier, und sie sind verletzlich. So manche Narbe in ihren Gesichtern wie in ihren Seelen zeugte davon. Ich staunte über das reibungslose Nebeneinander der Reichen und der Armen. Und dachte unwillkürlich an die Neidkratzer in meinem 1500-Euro-Wagen.

Immer wieder trafen wir auf gleichgesinnte – Menschen, die Motorrad fuhren, die Sinn für Freiheit hatten, die Unternehmen führten oder sich selbst beschäftigten – Das war gleichsam die nächste Überraschung – im Land der Korporatisten war der Korporatismus erstaunlich gering ausgeprägt. Es herrscht eine „ich mache aus mir was“ Mentalität, die ich auf der Stelle lieben lernte.

Wir fuhren durch das Platte Land – Land, welches es hier noch gab. Es wurde gebaut, höher, größer, schöner. Die Menschen begriffen ihre Umgebung als zu Gestaltendes und sich selbst als Gestalter. Ein krasser Gegensatz zu der unseren Art, die Umwelt als zerstört und verschandelt zu betrachten. Der Mensch schuf hier das Schöne gegen das Hässliche der feindlichen Umwelt. Auch diese Sicht gefiel mir auf Anhieb. Schließlich wollte ich in meinem Leben lieber Schöpfer als Vernichter sein. Sapere aude!, sagte schon Kant.

Es war das Wagnis, das hier immer mit schwang. Etwas wagen. Und dann siegen. Wer dachte schon bei uns noch so? Bei uns waren die Besitzstandswahrer an der Macht – die Konservativen, die das, was sie in ihrem von Wachstumszyklen begünstigten Leben hatten erreichen können, erreicht hatten; die weder vorwärts noch zurück konnten, ohne ihr Gesicht, ihr Geld und ihre Position zu verlieren; diejenigen, die vom Automatismus des Wachstums nach der Vernichtung durch Krieg und Wahnsinn profitiert hatten. Die oberen wagten nichts, die unteren wagten sich nicht, etwas zu wagen. Und an den Sieg glaubte seit sechzig Jahren zu Recht keiner mehr. Und so verkam unser Land langsam aber sicher immer weiter zur Republik der reichen Unwilligen und der armen Unfähigen.

Die gab es hier auch, ohne Zweifel. Aber eben viel weniger. Hier gab es noch Menschen mit den Werten, wie ich sie früher schätzen gelernt hatte: Männlein und Weiblein gingen zusammen – hatten Kinder und lebten als Familien. Es war auffällig, wie viel hier für die Sicherheit und das Wohlergehen der Kinder getan wurde. Und es gab welche! Ganz im Gegensatz zu uns, wo Schulen geschlossen wurden. Hier waren Werte lebendig, die das emanzipierte Europa längst verjubelt hatte – Tradition, Familie, Ehre, Vaterland.

Das Land hier wuchs, unseres Schrumpfte. Das Land hier wartete auf das Leben, unseres wartete auf den Tod. Das Land hier war reich und investierte. Unser Land war reich und siechte vor sich hin. Hier war Aufbruch, zuhause war Stagnation. Hier war Optimismus. Und wohl auch die Zukunft.

Schon lange hatte ich die Erkenntnis gehabt, dass das Glück der Menschen immer relativ war. Absolutes Glück war genauso unmöglich wie irgendeine Proportion zwischen Wohlstand und Glück. Ich habe mehr Glück in den Slums von Bombay gesehen, als auf dem Stuttgarter Killesberg. Gewiss, eine unbequeme Wahrheit. Aber sie ist nun mal wahr. Kollektiver Reichtum kann kein individuelles Glück generieren, das ist der große Irrtum jeder kollektivistischen Theorie.

Glück entsteht also durch Bewegung, durch Veränderung. Glück entsteht durch Handeln zu seines oder seiner Mitmenschen Gunsten. Glück entsteht aus der permanenten Freude, beschenkt zu werden. Glück entsteht durch Erfolg im Wirken nach seinen eigenen Maßstäben. Das Glück gehört jedem allein. Es ist sein eigen.

Ich sah sehr viele glückliche Menschen hier. Ich sah wenige reiche Menschen hier und viele arme. Und trotzdem waren sie stolz, etwas geschafft zu haben. Vielleicht waren sie auch nur stolz, er hierher geschafft zu haben, in dieses Leben, in dieses Land, in diesen Augenblick.

Viele waren glücklich hier und das steckte an. Ja, dachte ich. Man kann es fühlen: The Land of the Free. Es gibt es wirklich. Der große Geist der freien Welt, hier war er lebendig. Der Geist, der Menschen erschaffen lässt, der Menschen befähigt, über sich selbst hinauszuwachsen und zu etwas Größerem zu werden. Die bessere Welt, nach der sich bei uns so viele sehnten, zu der sie aber den geistigen Zugang verloren hatten. Hier war sie wirklich.

Die Welt, in die meine Vorfahren vor Hunger, Elend und Repression flüchteten. Der große Traum vom freien Land für freie Menschen. Hier war er.

Deshalb liebe ich Amerika.

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